
Wikitravel : Behaltet Euer Wissen für Euch!
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Wenn ich nun allen Wikipedianern von diesem Traumstrand erzähle.. Bild: AP
Mit Wikitravel wollen die Wikipedianer nichts Geringeres erschaffen, als „einen vollständigen und aktuellen weltweiten Reiseführer“. Doch der Ansatz ist utopisch - und das Ergebnis überflüssig.
Jetzt wird es ernst. Es gehe, dröhnt es auf der Homepage von Wikitravel, einem Ableger der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia, "um einen gigantischen Job". Denn nichts Geringeres will er erschaffen, als "einen vollständigen und aktuellen weltweiten Reiseführer, dessen Beiträge von Wikitravellern aus allen Ecken und Enden des Globus stammen". Vom Präsidenten bis zur Putzfrau ist die virtuelle Weltgemeinschaft der Reisenden aufgefordert, bei Wikitravel mitzumachen. Schließlich seien die Wikitraveller kein Geheimbund, sondern "nur Leute wie du, interessiert an Reisen, die gewillt sind, ihr Wissen zu teilen". Allerdings sollte man ein wenig jakobinischen Eifer mitbringen, denn die Botschaft lautet geradezu anarchosyndikalistisch: "Ignoriere Autoritäten! Du hast genauso viel Recht, etwas hier zu bearbeiten, wie jeder andere auch. Frag dich nicht lange, ob du was reinschreiben darfst: Du darfst!"
Gigantisch ist bislang vor allem die Lücke, die zumindest in der deutschen Version von Wikitravel zwischen Anspruch und virtueller Wirklichkeit klafft. Die Website konnte gerade ihren dreitausendsten Artikel begrüßen - das ist nicht viel für den ganzen Globus, und so bleibt die Welt des Wikiweltreiseführers ein Kaff. Wer etwa in Barcelona Hunger bekommt, wird mit Wikitravel nicht satt, denn statt Adressen von Restaurants gibt es nur Worthülsenbrei: "Die katalanische Küche ist vielfältig, aber vor allem reichhaltig. Von den kleinen Schmankerln, den Tapas, bis zu opulenten Fischgerichten oder herzhaften Steaks ist alles möglich." Wer in Berlin eine Unterkunft sucht, bekommt von einem Wikitraveller mit Deutschschwäche diesen Rat: "Für alle Naturliebhaber empfiehlt sich Hotel Gotland der in Bezirk Steglitz-Zehlendorf liegt, welcher als der ,Grüne Bezirk' bezeichnet wird." Sogar für New York wird nur ein einziges Hotel und ein einziges Restaurant genannt.
Ein gigantischer Irrtum
In Wahrheit aber ist Wikitravel ein gigantischer Irrtum, auch wenn es in der englischen Version deutlich mehr Informationen gibt als in der deutschen. Schon bei Wikipedia ist die angebliche Demokratisierung des Wissens problematisch, weil mit seiner bloßen Vervielfältigung und Verfügbarkeit ohne jede Kontrolle nichts gewonnen ist. Im Tourismus - und der Reiseführerliteratur, die Informationen valoriert, nicht summiert - gilt sogar das Gegenteil: Wissensaustausch im Internet mag in Chats und Foren funktionieren, in denen Reisende direkt miteinander kommunizieren und sich gegenseitig konkrete Fragen beantworten. Wikitravels Idee eines globalen touristischen Kanons hingegen, der aus der Summe aller touristischen Erfahrungen entsteht und im Idealfall zur apodiktischen, verbindlichen Weisheit wird, ist vermessen und anmaßend. Es kann ihn gar nicht geben, weil die Welt dafür glücklicherweise viel zu vielfältig und ihre Bewohnerschaft viel zu unterschiedlich ist. Ein "vollständiger weltweiter Reiseführer" ist deswegen so utopisch wie Borges' Bibliothek von Babel - und ebenso überflüssig.
Sollte Wikitravel jemals eine solche Informationsmacht gewinnen, wie es Wikipedia jetzt schon zu gelingen scheint, entstünde noch ein anderes, eher romantisches Problem. Alles Wissen weiterzugeben muss für jeden Reisenden ein Schreckensszenario sein, das Ende der süßen Einsamkeit: Entmythisierung, Massifizierung, Masochismus. Wozu ist man noch unterwegs, wenn man seine Entdeckungen mit der virtuellen Weltgemeinschaft teilen muss und bei keinem Sonnenuntergang in keiner Strandhütte mehr seinen Frieden hat? Was gibt es Schöneres auf Reisen als die kostbaren Momente, in denen man sich der Illusion hingeben kann, die Welt mit all ihrer Schönheit gehöre einem ganz allein? Egoismus ist kein netter Charakterzug. Auf Reisen aber muss man sich ihn leisten.