Kolumbien : Das Land der Liebe und des Schmerzes
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1. Wir wissen alle, wann wir geboren wurden, aber wir wissen nicht, wann wir sterben", sagt der Mann, der sich J.J. nennt und das Leben durchschaut hat, ein sanguinischer Hobbyexistentialist mit Ray-Ban-Sonnenbrillenimitat, Seifenopersuperheldenlächeln und Tropensonnengemüt. "Und was bedeutet das? Genieße jeden Augenblick, Mann, bevor es zu spät ist! Kein Trübsinn, Party! Ich rotte mich jedes Wochenende mit meinen Freunden zusammen, dann kochen wir, trinken, tanzen, ,hacer la vaca' heißt das bei uns, die Kuh machen, keine Ahnung, warum. Für die Jungen gibt's Bier und Rum, für die Alten Whisky, weil wir es hier ab fünfundvierzig alle am Herzen haben, wir essen eben zu viel Frittiertes, und der Whisky weitet die Gefäße, das ist wissenschaftlich erwiesen, das sagt dir jeder Arzt. Und getanzt wird natürlich Cumbia, was sonst, Tradition, Ehrensache, der Tanz der Sklaven, die Fußfesseln tragen mussten und deswegen nicht hüpfen konnten wie daheim in Afrika. Also haben sie den Hüftschwung der Cumbia erfunden, der ist berühmt. Siehst du, so, genau so, immer aus der Hüfte. Das ist die Wahrheit, ich schwör's, und wahr ist auch, dass schon das Wort Cumbia alles über uns sagt: Es bedeutet in der Sklavensprache Glück und Schmerz - voller Schmerzen ist das Leben, und ein Glück ist es, am Leben zu sein."
J.J. steht auf dem Hausberg seiner Heimatstadt Cartagena de Indias und streichelt zufrieden seinen Rumbierbauch, der schon leichte Ansätze einer Whiskywampe hat, vor sich den Panoramablick auf ein Wunder aus Widersprüchen, hinter sich das vierhundert Jahre alte Augustinerkloster La Popa, dessen Kreuzgang mit Sinnsprüchen des heiligen Augustinus geschmückt ist. "Das Maß der Liebe ist die Liebe ohne Maß", lautet einer, und er klingt so, als habe der Heilige die vergangene Nacht mit J.J. durchgezecht. "Schaut euch das an, meine Stadt, Glück und Schmerz!", sagt er und breitet die Arme aus, als wolle er Cartagena umschlingen, um es nie wieder loszulassen.
Eine pharaonische Festung
Das Glück wohnt dort hinten in den Appartementhochhäusern von Bocagrande, auf einer schmalen Landzunge, die als Kolumbiens Klein-Miami wie eine Sichel ins Meer schneidet. Und es wohnt in der Altstadt mit ihrem Fort San Felipe, einer pharaonischen Festung, der größten Amerikas, einst Beschützerin des sichersten Hafens der Neuen Welt, durch den alle Reichtümer Südamerikas geschleust wurden, all das Gold und Silber, all die Smaragde aus der unerschöpflichen Erde Kolumbiens. San Felipe ist ein Labyrinth aus Rampen, Kasematten und Wehrtürmen, seiner Wehrhaftigkeit längst beraubt wie ein Samson ohne Schopf, ein steinerner Termitenhügel, durchzogen von schmalen Gängen, so eng, dass darin nur Luft für dreißig Menschen ist. Ein Schild warnt heute die Besucher davor, niemand warnte früher die Feinde, die in die toten Gänge getrieben wurden und dort erstickten.