Das amerikanische Berlin : Die Flucht vor dem nationalen Gefühl
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Hier sind sogar die stillen Wasser flach, deswegen fährt der Amerikaner gerne nach Berlin: Da er sein Land nicht gerne verlässt, fährt er nach Berlin, Maryland Bild: AFP
Wem es in Washington zu langweilig ist, der fährt nach Berlin. Mit dem Auto braucht man nur drei Stunden. Und das ist kein Spuk - anders als vieles andere in Berlin, Maryland.
Wir waren nach Washington geflogen, und was sahen wir da? Abend für Abend standen da, mitten in der Lobby des sogenannten „W Hotel“, ein paar herausgeputzte Mittdreißiger und warteten - aber auf was? Sicher nicht auf die Tour durch das Weiße Haus, die ist schon seit Monaten ausgebucht. Sie warteten auf einen Platz auf der Dachterrasse im elften Stock des ehemals ältesten Hotels der Stadt, denn was man tagsüber nur zu sehen bekommt, wenn man sich in eine Aneinanderreihung verschwitzter Jogger, kreischender Schulklassen, stolzer Veteranen und pflichtbewusster Touristen einfädelt, liegt einem hier zu Füßen:
Auf der linken Seite sticht der Obelisk des Washington Monument in den von der Abendsonne erröteten Himmel, dahinter spiegelt sich die schneeweiße Kuppel des Jefferson Memorial im Wasser des Tidal Basin. In der Ferne sieht man den Nationalfriedhof Arlington, auf dem neben vielen anderen Robert, Jackie und John F. Kennedy begraben liegen, gleich daneben breitet sich der massive Pentagon-Bau aus. All das sieht man hier sehr schön von oben - und von oben sieht es auch fast besser aus.
Die Last der Geschichte
Beugt man sich über die rechte Seite der Terrasse, steht da das Lincoln Memorial. Martin Luther King hat hier im August 1963 seine berühmte Rede „I have a dream“ gehalten, woran eine Markierung auf den Stufen des Memorials erinnert, aber trotz oder gerade wegen der Last der Geschichte bleibt der Puls der Stadt schwach, und der des Besuchers bleibt niedrig.
Die Masse von Memorials und Monumenten wirkt in seinem strotzen Nationalstolz bedrängend; dafür sind die Straßen bis auf fünfzig entschlossene „Occupy D.C.“Demonstranten menschenleer. Um ein paar Washingtoner zu Gesicht zu bekommen, muss man dann eben auf eine Hotelterrasse klettern oder in das belebtere Georgetown fahren, in dem bis vor kurzem noch Dominique Strauss-Kahn sein Unwesen trieb.
Von der Bar des „W“ hat man freie Sicht auf die Büroräume der First Lady im Ostflügel des Weißen Hauses, und wären da nicht die Gardinen, man könnte Michelle bei der Arbeit zusehen. Je länger der Abend geht, desto enttäuschender ist aber, dass sich in dem Haus rein gar nichts regt, und irgendwann müssen wir einsehen: Das Präsidentenpaar ist lange vor unserer Ankunft ausgeflogen.
Natürlich ist Washington mehr als nur die Summe seiner patriotischen Teile. Georgetown lockt mit netten Boutiquen und dem Flair einer britischen Studentenstadt, und während man mit einem saftigen Crab-Cake-Sandwich in der Sonne sitzt, kann man junge Männer beim Stand-up-Paddeln auf dem Potomac River beobachten. Schön ist das ja schon, nur wird man das Gefühl, dass sich der Reiz der Stadt mehr dem nationalen als dem internationalen Touristen erschließt, trotzdem nicht los.
„Welcome in Berlin!“
Für den unpatriotischen Besucher empfiehlt es sich daher, nach ein paar Tagen in ein Auto zu steigen und sich auf eine Landpartie in den angrenzenden Bundesstaat Maryland zu begeben. Nach etwa drei Stunden auf der Route 50, die Washington mit dem zu Springbreak-Zeiten beliebten Badeort Ocean City verbindet, wartet eine Überraschung: „Welcome in Berlin!“
Auf einem verrosteten Schild weisen dicke schwarze Buchstaben in die amerikanische Version unserer Hauptstadt. Die Main Street sieht aus wie das frisch arrangierte Set für einen Kostümfilm: Die roten Backsteinhäuser entlang der Hauptstraße sind alle im viktorianischen Stil gehalten, keines von ihnen ist höher als drei Stockwerke, und einige sehen aus, als seien sie innen hohl.
Wenn man die von Lärm, Reklameschildern und sonstigen Zeichen unserer Zeit befreite Straße entlangschlendert, würde man sich nicht wundern, wenn eine Kutsche um die Ecke biegen oder eine Dame im schweren Reifrock über die Straße hoppeln würde.