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Abschied von gestern (5) : Der Schönheit wohnt der Schrecken inne

Wer behauptet, der Mensch könne die Schöpfung nicht verschönern, ist noch nie an der Mosel gewesen. Denn das, was die Winzer hier aus den Ufern gemacht haben, ist der grandiose Gegenbeweis. Bild: IMAGO

Die Mosel hängt an ihrer Geschichte - kein Wunder, denn die touristische Vergangenheit der siebziger Jahre ist hier quietschfidel. Inzwischen aber begreifen die Moselaner, dass die Zeit selbst an ihrem zeitlos schönen Fluss nicht stillsteht.

          10 Min.

          Der erste Eindruck ist nicht immer der beste und schon gar nicht der richtige. Beginnt man seine Mosel-Reise zum Beispiel in Cochem kurz vor der Mündung, wünscht man sich nichts sehnlicher, als dass eine gewaltige Gnadenflutwelle diese ganze Chose ad hoc renaturieren möge. Cochem ist - man darf das sagen, ohne jemandem zu nahe zu treten - eine Art Mosel-Ballermann, dessen muffiger Charme irgendwo zwischen Heinz Erhardt und Helmut Kohl angesiedelt werden muss. Es ist das Schmuddelkind an Deutschlands schönstem Fluss, abgewetzt vom Massentourismus, verhunzt vom Nachkriegsbetonbrutalismus, vollgestopft mit Schnitzelparadiesen, Bierkaschemmen, Schlagermusikhöllen und Souvenirramschläden, in denen man schmusende Porzellankatzen, mülleimergroße Zinnkrüge oder Spaßpostkarten mit obszönen Lebensweisheiten erstehen kann. Das Publikum sieht aus wie RTL2, das Stadtbild, als bezöge es HartzIV, die Einheimischen ertragen ihr Los mit Trotz und Tapferkeit, und der im Grunde gute Moselwein wird in kitschig geblümten Geschenkpackungen verkauft, eine Flasche halbtrocken, eine Flasche lieblich, keine Flasche genießbar. Doch das macht nichts, denn der Wein findet ohnehin ungeöffnet seinen Ehrenplatz in der Schrankwand Eiche massiv direkt über der Monsterglotze.

          Jakob Strobel y Serra
          stellvertretender Leiter des Feuilletons.

          Der zweite Eindruck nur ein paar Kilometer flussaufwärts wischt dieses Schreckensbild handstreichartig beiseite und offenbart, warum Reisende aller Herren Länder seit zweitausend Jahren von der Mosel schwärmen. Eine kunstvollere Kulturlandschaft, eine gelungenere Kollaboration von Mensch und Natur gibt es kein zweites Mal in Deutschland. Wie ein Lindwurm mäandert die Mosel durch ihr tiefes Tal, mehr gedankenverloren schlendernd als zielstrebig fließend, ein Fluss ohne Eile und Hektik, dessen Gelassenheit sich sofort auf jeden Besucher überträgt. Doch einzigartig machen die Mosel erst ihre Weinberge, die sich an den Steilufern festkrallen wie Schwalbennester und mitunter so schwindelerregend vertikal sind, dass die Winzer zu Bergsteigern werden. Es ist ein grandioses Zusammenspiel aus den Rundungen des Flusses, den Schwingungen der Steilufer und der strengen, geometrischen Parallelität der Reben, die wie ein filigran gestricheltes Patchwork die Hänge hinaufklettern. Es ist dieser ständig wechselnde Rhythmus aus Kurve und Gerade, dieser wundersam aufgelöste Widerspruch aus Urtümlichkeit und Kultiviertheit, der die Mosel zu einem Gesamtkunstwerk aus Wasser und Wein werden lässt. Ein hübscher Fluss wäre sie ohne ihre Reben. Eine überwältigende Schönheit ist sie dank ihnen.

          Das Tal der „Moselochsen“

          Doch der Mosel geht es wie allen Schönheiten: Sie wird von der Liebe ihrer Bewunderer fast erdrückt, seit der römische Dichter Ausonius sie in seinem Epos „Mosella“ besang, Goethe vor ihr dahinschmolz und Tucholsky sich Hals über Kopf in sie verknallte. Ihre Liebhaber konnte sich die Mosel indes nie aussuchen, vor allem in der Wirtschaftswunderzeit nicht, als sie zum Amüsierrevier sämtlicher Kegelclubs zwischen Rhein, Ruhr und Amstel avancierte. Wie Heuschreckenschwärme fielen damals die fidelen Gesellen über den armen Fluss her, soffen noch die übelsten Tropfen in den Kellern der Winzer klaglos weg oder blieben gleich beim Bier und stellten auch sonst keine nennenswerten Ansprüche an Küche und Komfort. Bis heute funktioniert diese antiquierte Form des Fremdenverkehrs so verblüffend gut, dass man nichts Fundamentales am Geschäftsmodell geändert hat - in der felsenfesten Überzeugung, nichts ändern zu müssen. Es läuft doch. Und es ist gewiss kein Zufall, dass die entwaffnend liebenswerten, aber auch kolossal sturköpfigen Moselmenschen gerne mit dem Spitznamen „Moselochsen“ bezeichnet werden.

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