Fahrt im Orientexpress : Der Zug aus der versunkenen Zeit
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Als wäre Hercule Poirot an Bord: Die Beschwörung der Vergangenheit gelingt dem Venice Simplon-Orient-Express so makellos wie kaum einem anderen Luxuszug. Bild: VSOE
Melancholie statt Mordlust: Bei der Fahrt mit dem Venice Simplon-Orient-Express von Florenz nach Paris reist man zurück in die Belle Époque der europäischen Eisenbahnkultur – und will von der Moderne ganz schnell nichts mehr wissen.
Der Geisterzug wird gleich auf Gleis neun einfahren, aber das halten wir noch immer für ein Gerücht. Wir stehen mitten im Getriebe des Hauptbahnhofs von Florenz, Mussolinis schauderhaftem Geschenk an sein Volk, ein Klotz, genauso kantig und klobig wie das Kinn des Duce, und fühlen uns unendlich weit weg von all der alten florentinischen Pracht, vom stolzen Palazzo Vecchio, dem Marmorgebirge des Doms, den unermesslichen Schätzen der Uffizien. Stattdessen sind wir gefangen in der geschäftigen Belanglosigkeit des Alltags. Menschen hetzen über die Bahnsteige, Touristen zerren Rollkoffer hinter sich her, Regionalbahnen und Hochgeschwindigkeitszüge fahren ein und aus, nach Rom, Mailand, Lucca, auf Gleis neun wird eine Verbindung nach Domodossola erwartet. Keine Anzeigetafel kennt unseren Zug, keine Lautsprecherstimme kündigt ihn an, nicht den geringsten Hinweis gibt es auf seine Existenz – bis auf drei Musiker mit Banjo, Klarinette und Posaune, die wie Irrläufer der Zeiten auf unserem Gleis Swing-Musik aus den Zwanzigerjahren spielen. Es ist die Willkommenshymne für uns und den Venice Simplon-Orient-Express, die eine verlockende Botschaft verkündet: Alle anderen im Hauptbahnhof von Florenz werden in spätestens ein paar Stunden am Ziel sein. Wir aber werden gleich in eine versunkene Epoche mit einem Zug fahren, der offiziell aus Venedig, tatsächlich aber aus einer anderen Welt kommt.
Plötzlich taucht er auf, kriecht im Schneckentempo heran und bereitet uns eine kolossale Enttäuschung: Keine majestätische Dampflokomotive fährt mit triumphalem Schnaufen in den Bahnhof ein, sondern eine moderne Zugmaschine, die sich kaum von den Lokomotiven auf den anderen Gleisen unterscheidet. Doch mit seinem Zeitlupentempo verrät sich der Venice Simplon-Orient-Express schon und gibt uns verschwörerisch zu verstehen, dass er keine Eile und kein Ziel hat, obwohl er zweifelsfrei nach Paris fährt, weil er selbst das Ziel und Eile für ihn die Todsünde unserer Moderne ist.
Eine Mischung aus „Pinocchio“ und „Nussknacker“
Dann schleicht die Lok an uns vorbei, und wir trauen unseren Augen nicht: Mehr als ein Dutzend nachtblauer Waggons mit schwanenweißen Dächern und goldenen Lettern hat sie im Schlepptau, jeder einzelne fast hundert Jahre alt, jeder einzelne so strahlend schön wie eine Diva auf Schienen, gebaut in verschiedenen europäischen Fabriken, wie die blitzblank polierten Messingschilder an den Trittstufen der Türen offenbaren. Les Ateliers Métallurgiques in Nivelles, The Metropolitan Carriage Wagon & Finance Company in Birmingham, Les Entreprises Industrielles Charentaises in La Rochelle: Das sind die Geburtsstätten dieser Waggons, die stolz den Schriftzug „Compagnie Internationale des Wagons-Lits et des Grands Express Européens“ über den Fenstern tragen, darunter das Wappen der Firma mit dem doppelten Löwen, eines Königshauses würdig, und viersprachige Spezifizierungen wie Carrozza-Letti, Voiture-Lits, Speisewagen und Dining Car, gleichfalls in goldenen Lettern.