Sylt : Der letzte Sommer
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Ein Sylter Sommer vergangener Tage: Mädchen posieren 1921 für ein Modebild am Strand. Bild: ullstein bild
Westerland auf Sylt wurde nicht von Bomben zerstört, sondern von Profitgier und Modernisierungswahn. Eine Reise in die Vergangenheit.
Das Erste, was ich sehe, als ich aus dem Zug aussteige, sind vier kotzgrüne windschiefe Riesen - Skulpturen des Künstlers Martin Wolke -, Filialen von Kik und Rossmann, ein Hendlhaus und Kinskys Fleischwaren, untergebracht in Betonklötzen aus den sechziger Jahren oder in Bürgerhausimitationen aus Backstein. Die Fußgängerzone in der Friedrichsstraße ist voller Rentner in weißen Hosen und bunten Steppwesten, die alle in eine Richtung streben, dem Meer zu, als handele es sich dabei nicht um die Nordsee, sondern um einen Jungbrunnen.
Zwischendurch werden sie immer wieder aufgehalten, von Boutiquen und Bürstenhäusern, Imbissen und Teeläden, von der „Jever Stube“, vom „Münchener Hahn“, vom „Alt Berlin“ - und von Schaukästen, in denen Immobilienfirmen Reetdachmutanten „in erster Wattreihe“ für sechs Millionen Euro anbieten. Je weiter ich komme, desto schrecklicher die Architektur. Gewissermaßen als großes Finale steht am Ende, direkt am Strand, ein dreizehnstöckiger Gebäuderiegel, der ostdeutschen Plattenbauten an Schönheit und Charme in nichts nachsteht: das Neue Kurzentrum mit Kongresshalle, Tagungsräumen, Cafés und Restaurants, einer Ladenpassage und seinen Hotels „Monbijou“, „Roth“ und „Wünschmann“ - die touristische Entsprechung einer Shopping Mall. Der Stuttgarter Bauunternehmer Hans Bense - „Baut das Besondere“ - hat es mit zu verantworten.
Anschauungsunterricht vom Kapitalismus
Solange ich am Strand liege, Männer in Neoprenanzügen beim Wellenreiten zuschaue und Mädchen auf Pferden fotografiere, kann ich das Grauen hinter mir verdrängen. Aber dann geht die Sonne unter, der Wind frischt auf, und ich muss zurück. Auf dem Weg denke ich an das, was der Literaturwissenschaftler Walter Jens einmal gesagt hat: „Ach Sylt, schön muss es hier einmal gewesen sein, auch im Sommer, bevor die Spekulation und der Kapitalismus, Anschauungsunterricht erteilend, über das Land zwischen den Meeren triumphierten.“
Andere deutsche Städte können ihre Hässlichkeit durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges entschuldigen, Westerland nicht. Zwar wurde auch Sylt von den Alliierten aus der Luft angegriffen (die Insel war von den Nazis zur Festung ausgebaut worden), aber die meisten Bomben fielen entweder ins Wasser, ins Watt oder in die Dünen. Trotzdem wurde Westerland zerstört. Wie, frage ich mich, konnte das passieren? Und wie sah es vorher aus? Ich lese Geschichtsbücher von Lokalhistorikern, blättere großformatige Fotobände durch, scrolle Websites rauf und runter. Doch irgendwann muss ich mir eingestehen: Ich verstehe es nicht. Also buche ich eine Führung mit dem Titel „Pracht und Prominenz auf der Promenade“ bei Silke von Bremen. Als ich zum Treffpunkt erscheine, stehen schon zwei Dutzend Leute zusammen, Männer und Frauen mit Designerbrillen, gefärbten Haaren und Kuscheltieren an den Rucksäcken. Ich bin mit Abstand der Jüngste. „Ich möchte heute mit Ihnen in eine Zeit abtauchen, wo Westerland - das kann man sich ja heute so auf den ersten Blick nicht mehr vorstellen - ein ganz mondänes und exklusives Bad war. Ich kann das, was Sie hier sehen, nicht ändern, aber ich verspreche Ihnen, Ihre Wahrnehmung wird sich verändern.“