Deutschland : In der Mitte entspringt ein Fuß
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Die Antwort des Ruhrgebiets auf den Indian Summer: das Ruhrtal zwischen Kettwig und Essen-Werden. Hier verläuft der „Kettwiger Panoramasteig“. Bild: Jochen Tack
Es müssen nicht immer Berge sein: Der „Kettwiger Panoramasteig“ zeigt, dass man auch im Ruhrgebiet schön wandern kann.
Wie im Vorspann einer nie gedrehten Folge der Netflix-Serie „Dark“ liegt es plötzlich vor einem in einer Mulde, „das ist doch ein . . .“, denkt man für einen Moment, bevor klar ist: Ja, das ist es tatsächlich – der Rest eines Autos. Viel ist nicht übrig geblieben, das Chassis, der Motorblock und kleinere Karosserieteile, pflanzenumrankt und halb versunken im Herbstlaub, fast wäre man dran vorbeigelaufen. Noch seltsamer als die rostigen Überreste aber ist ihre Lage. Wie sind die hier hingekommen? Die Buchen hier stehen so eng, dass ein Auto nirgendwo durchpasst. Es gibt aber auch keine Zufahrt. Keine asphaltierte, keine geschotterte, überhaupt keine. Es gibt bloß diesen engen, schmalen Wanderweg, von dem aus man die Wrackteile sehen kann. Wenn man im richtigen Moment in die richtige Richtung schaut.
Vielleicht sind solche Funde wie das Auto im Wald gemeint, wenn man sagt, dass sich kleine Abenteuer auch ganz in der Nähe erleben lassen. Und vielleicht meint man ja Wege wie den neulich eröffneten Kettwiger Panoramasteig, wenn vom neuen Wanderland Deutschland die Rede ist und davon, wie man im Jahr der großen Pandemie die liebste Freizeitaktivität der Deutschen neu erfinden kann. Auf einer Länge von 35 Kilometern legt sich der Weg wie eine Schlaufe um die Essener Stadtteile Kettwig und Werden. Er führt vorbei an Pferdekoppeln und Streuobstwiesen. Er windet sich an Waldhängen nach oben und zieht sich durch Felder, über denen sich der blaue Himmel nach allen Seiten streckt und reckt, als wolle er unbedingt noch weiter als bloß bis zum Horizont reichen. Und er schafft tatsächlich das Kunststück, dem Wanderer das Gefühl von Weite, Stille und Natur zu vermitteln, obwohl er in unmittelbarer Nähe einer Ruhrgebietsmetropole mit fast 600 000 Einwohnern unterwegs ist.
„Was man den Essenern nicht erklären muss, den anderen aber schon.“ Das kommt jetzt von Ralph Kindel. Der 51-jährige plant und organisiert Großprojekte wie Essens Jahr als Europas Kulturhauptstadt und vor kurzem das Projekt „Grüne Hauptstadt“. Die Metropole im Zentrum des größten Ballungsgebiets Deutschlands ist nach eigenen Angaben die drittgrünste Großstadt der Republik, „aber viele Leute denken beim Stichwort Ruhrgebiet nach wie vor an qualmende Schlote und Wäsche, die beim Trocknen an der Leine schon wieder grau wird“. Und eben auch an Zechen, Stahlwerkstürme und trostlose Straßenzüge, die auf der einen Seite bis nach Bochum reichen und auf der anderen bis nach Duisburg. Um dieses längst überholte Ruhrgebietsbild zu ändern, hat der passionierte Wanderer Kindel schon vor ein paar Jahren den Baldeney-Steig initiiert, eine mittlerweile äußerst populäre Rundtour um Essens berühmten See. Der neue Kettwiger Panoramasteig geht von der Konzeption noch einmal einen Schritt weiter: Man wolle die Dialektik der Metropole Ruhr bedienen, heißt es im offiziellen Wanderhandbuch. Und das wiederum heißt? „Zeigen, wie nah Natur und Stadt im Ruhrgebiet beieinanderliegen. Und wie schnell man von einem zum anderen kommen kann.“