Deutsche Farbenlehre (6): Braunfels : Keiner entkommt der originalen Braunfels-Überraschung
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Ein Bild von einer Burg: Die Residenz der Grafen zu Solms ist der ganze Stolz von Braunfels im Herzen Hessens. Bild: Elsemarie Maletzke
Ohne seine Ritterburg wäre dieser Luftkurort nur ein besonders hübsches Fachwerkstädtchen in Mittelhessen. Mit der Burg aber ist er ein Magnet. Leichte Reibungen zwischen der adeligen Familie Solms-Braunfels und der Gemeinde wirken zusätzlich anziehend.
Jedem, der sich Braunfels zum ersten Mal nähert, ergeht es ein wenig wie Kaiser Friedrich III. im Mai des Jahres 1887, als er, vom Bahnhof im Lahntal kommend, mit der Kutsche aus dem Wald hinaus ins Offene rollte, Braunfels auf der Höhe erblickte, die Augenbrauen hob und zum beisitzenden Landrat sagte: „Nun musste ich so alt werden, um Braunfels zu sehen!“ Tatsächlich ist Friedrich III. nur siebenundfünfzig Jahre alt geworden, aber die original Braunfels-Überraschung kennt weder Rang noch Zeit, und die Bürger zitieren den Neunundneunzig-Tage-Kaiser noch immer gerne und haben ihm im Kurpark ein Denkmal gesetzt, eine schwarze Büste unter einem neugotischen steinernen Spitzbogen, 1889, ein Jahr nach seinem Tod. Es war, als sollte er Braunfels sehen und sterben.
Was den Kaiser in Erstaunen setzte, war ein Anblick, den man vielleicht am Rhein, aber nicht im lieblich gewellten Mittelhessen erwartet. Über die Baumwipfel ragt hoch und breit eine vieltürmige basaltgraue Ritterburg mit spitzen Dächern, Zinnen, Altanen und Gauben, umgeben von Ringmauern, Falltoren und Kanonen-Bastionen, als wappne man sich gerade gegen einen Haufen Landsknechte, der über die Bergflanke und gegen die Einbahnstraße am Kurpark heraufgepoltert käme.
Der Graf trägt dunkelblonde Sturmfrisur
In Wirklichkeit ist nie ein Geharnischter durch die Talpforte geritten. Schloss Braunfels ist keine mittelalterliche Trutzburg, sondern der steingewordene Schwarm eines Fürsten zu Solms-Braunfels. Georg, der sechste Fürst, der auf seinem Porträt im Rosa Salon des Schlosses eher wie ein leutseliger Kommerzienrat wirkt, der mit verlegener Geste den rechten Daumen in sein Frackhemd steckt, wurde vor hundertfünfzig Jahren vom Baufieber erfasst und rüstete den Familiensitz, der seit dem dreizehnten Jahrhundert bereits allerlei festungstechnische und repräsentative Metamorphosen durchlaufen hatte, zur romantischen Ritterburg um, komplett mit Wehrgang und neuen Türmen. Seither drückt der Erhalt der Immobilie die gräfliche Familie, die in der einundzwanzigsten Generation dort oben wohnt.
Johannes von Oppersdorff Solms-Braunfels ist der amtierende Graf, ein langer, schmaler Jurist von siebenundfünfzig in Chinos und kleinkariertem Hemd mit dunkelblonder Sturmfrisur und randloser Brille, die seine Augen groß erscheinen lässt. Den Ausdruck „Herrscherblick“ aus seinen Fenstern lehnt er ab. Vielleicht ist das Verhältnis zwischen Schloss und Gemeinde Braunfels schon kompliziert genug. Der Graf sei ein netter Mann, sagen sie in der Stadt, solange man nichts von ihm wolle. Man hätte das Schloss gern etwas offener für allerlei Events; der Graf macht es aber lieber zu. „Ich gelte als Spielverderber“, sagt er. Im Schlosscafé im ehemaligen Cabinettsbau trinkt er ein stilles Wasser und bügelt dann mit dem Boden des leeren Glases die dicken Säume des Tischdeckchens nieder.