Ein weiter Weg
Text und Fotos von WIN SCHUMACHER
24. November 2021 · Die Zebrawanderung im Westen Botswanas ist ein einzigartiges Naturschauspiel und zugleich eine geglückte Rückkehr. Und es ist nicht der einzige gute Grund für Touristen, auch in die Kalahari zu ziehen.
Am Ufer des Boteti steigt eine dichte Staubwolke auf. Unzählige Zebrahufe donnern dem ersehnten Strom entgegen. Die gestreifte durstige Herde säumt bald dicht gedrängt den Fluss. Ein einsamer Elefantenbulle räumt missmutig seine Badestelle. Wie eine schimmernde blaue Lebensader durchfließt der Boteti die Kalahari. Jenseits seiner grünen Ufer erstreckt sich in der Trockenzeit für Hunderte Kilometer nichts als staubige Dürre. Dann sammeln sich Tausende Wildtiere um das letzte verbleibende Wasser.
„Mit dem Regen verwandelt sich hier alles“, sagt Khumiso Rathipana, während er die trinkenden Zebras beobachtet, „dann wird aus der Kalahari plötzlich ein endloses Weideland.“ Der Wildtierexperte verfolgt die Tiere aufmerksam. Er erforscht ein einzigartiges Naturphänomen. Jahr für Jahr wandern Tausende Zebras mit der einsetzenden Regenzeit aus den wilden Flusslandschaften im Norden Botswanas in den Makgadikgadi-Pans-Nationalpark in der Kalahari. Hier erwartet sie im Frühjahr ein üppig grüner Garten Eden. Die große Zebrawanderung übertrifft sogar die berühmte Gnuwanderung in der Serengeti an Länge und soll einst die größte Huftiermigration Afrikas gewesen sein. Seit den 1960er-Jahren wurden jedoch immer mehr Viehzäune errichtet, die die Wanderungen bald unmöglich machten. Zehntausende Wildtiere verendeten.
„Die Tiere kehren langsam zurück“, sagt Rathipana. Weil inzwischen wieder Zäune entfernt wurden und Elefanten sie niedergetrampelt haben, sind riesige Zebraherden wieder zu ihren ursprünglichen Routen zurückgekehrt. „Sie folgen wohl uralten Instinkten“, sagt Rathipana, „obwohl sie sie gar nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen.“ Der Leiter der Naturschutz-Organisation „Round River Conservation Studies“ in Botswana hofft, dass sich in Zukunft wieder ein uralter Kreislauf schließt, der jahrzehntelang unterbrochen war. Wie viele Tiere sich Jahr für Jahr erneut auf die Wanderschaft begeben, darüber gibt es allerdings bisher nur wenige Daten.
Rathipana hat im ostafrikanischen Tansania Wildlife Management studiert und dort erlebt, wie die große Gnuwanderung ein ganzes Ökosystem belebt. Die „Great Migration“ in der Serengeti ist längst das wichtigste Aushängeschild des Tourismus in Tansania und spült Millionen in die Staatskassen. Einzig hier und in der benachbarten Masai Mara in Kenia ist dieses Naturspektakel zu beobachten: Hunderte Gnus und Zebras überqueren gleichzeitig den Mara-Fluss. In den schlammbraunen Fluten warten bereits meterlange Krokodile auf sie.
Rathipana glaubt, dass auch Botswanas Zebrawanderung das Potential hat, viele Touristen in den Makgadikgadi-Pans-Nationalpark im Westen des Landes zu locken. „Anders als in Tansania haben Touristen die Tierherden hier ganz für sich allein“, sagt er. Die meisten Botswana-Reisenden besuchen vor allem das weltberühmte Okavango-Delta und den Chobe-Nationalpark im Norden des Landes, wo Teile der Zebrawanderung ihren Ursprung haben. Die Herden erreichen dort allerdings nie die Größe wie in Makgadikgadi. Seit Beginn der Pandemie ist das Tourismusgeschäft in Botswana dramatisch eingebrochen. „Das stellt nicht nur die Safari-Veranstalter vor große Probleme“, sagt Rathipana, „auch für den Naturschutz sind es schwere Zeiten.“
In der Morgendämmerung ist Mpaphi Dikaelo mit seinem Safarijeep von der Meno-a-Kwena-Lodge an einer Flussbiegung des Boteti aufgebrochen. Eine Fähre setzt ihn über in den Nationalpark. Der Guide folgt dem Fluss entlang der Parkgrenze. Während viele Zebras längst in den Norden Botswanas zurückgekehrt sind, halten sich etliche große Herden das ganze Jahr über entlang des einzigen Flusses auf, der in dieser Zeit nicht austrocknet. Die leuchtend grüne Ufervegetation zieht auch ungezählte Vögel an. Rot- und Gelbschnabeltokos krakeelen. Metallisch schimmernde Riesenglanzstare, winzige Nektarvögel und Zwergspinte bringen Farbe ins Dickicht. Pfeifgänse, Reiher und Störche bevölkern die Flussauen. „Der Boteti wird direkt vom Okavango gespeist und hat daher fast die gleiche Tierwelt wie das Delta“, erklärt Dikaelo.
Etwas landeinwärts trifft er auf eine Patrouille der Botswana Defence Force. In den Nationalparks des Landes übernimmt traditionell das Militär den bewaffneten Kampf gegen die Wilderei. Dikaelo erkundigt sich nach den Nashörnern, die in der Gegend einen Zufluchtsort gefunden haben. „Es geht ihnen gut“, sagt der Soldat knapp.
Die zunehmende Wilderei von Nashörnern ist derzeit ein Politikum in Botswana. In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl getöteter Nashörner sprunghaft angestiegen. Vor allem während der Lockdown-Phasen waren weltweit agierende Banden insbesondere über die nördliche Grenze ins Okavango-Delta eingedrungen. Das Horn ist genau genommen einfaches Keratin, der Stoff, aus dem auch Hufe oder Fingernägel sind. Es gilt in einigen asiatischen Ländern dennoch als Heilmittel der Traditionellen Chinesischen Medizin, auch wenn wissenschaftliche Studien jegliche Wirksamkeit wiederholt widerlegt haben. Beim illegalen Wildtierhandel findet die zu absurden Preisen gehandelte Ware ihren Weg nach Fernost. Im Oktober gab Botswanas nationale Naturschutzbehörde bekannt, dass 2019 und 2020 insgesamt 92 Nashörner gewildert wurden. In dem Jahrzehnt zuvor fielen nur vereinzelt Tiere der Wilderei zum Opfer. Wie viele im laufenden Jahr 2021 getötet wurden, ist nicht bekannt. Naturschützer fürchten, dass die Tiere im Okavango-Delta bald ausgerottet sein könnten. Botswanas Naturschutzbehörde ließ nun ankündigen, zumindest die vom Aussterben bedrohten Spitzmaulnashörner aus dem Okavango-Delta in leichter zu überwachende, eingezäunte Gebiete umsiedeln zu wollen.
Die Nashornwilderei ist nur eines von vielen Themen, die die Naturschützer derzeit umtreiben. „Durch die Pandemie hat sich der Konflikt zwischen Wildtieren und den Menschen zugespitzt“, erklärt Dikaelo. „In den Dörfern nahe den Schutzgebieten sorgen Raubtiere, die das Vieh reißen, und Elefanten, die Felder zerstören, immer wieder für Ärger.“ Wenn die Einnahmen aus dem Tourismus ausbleiben, ist die Toleranz für Schäden durch Wildtiere noch geringer. Auch die Fleischwilderei nehme zu. Dikaelo bringt regelmäßig Schulkinder in die Nationalparks, um sie über das Ökosystem zu informieren. „Viele von ihnen haben nie einen Löwen von Nahem gesehen“, sagt er, „wir müssen ihnen die Umwelt erklären, damit sie verstehen, wie wichtig der Naturschutz ist.“
Im Dorf Gweta nordöstlich des Makgadikgadi-Pans-Nationalparks hat sich nach Monaten von Lockdown und Covid-Restriktionen langsam wieder ein wenig Alltag eingestellt. Das Krankenhaus, das noch vor einigen Wochen einen Ansturm verzeichnete, wirkt verwaist. In der Gasebalwe-Seretse-Grundschule hingegen herrscht seit September wieder fast üblicher Betrieb. Trügen die Kinder nicht alle auch auf dem Pausenhof ihre Masken, alles könnte fast so aussehen wie in vorpandemischen Zeiten. „Die Pandemie hat die Lehrer besonders hart getroffen“, sagt die stellvertretende Schulleiterin Itumeleng Moswasi, „jetzt fangen wir alle noch einmal bei null an.“ Vier ihrer Lehrer und etliche Schüler wurden in den vergangenen Monaten positiv auf Covid-19 getestet. Glücklicherweise war aber niemand an den Folgen gestorben oder hatte schwere Symptome. Inzwischen sind alle Kollegen geimpft. Die Schule ist jedoch noch immer weit vom normalen Betrieb entfernt. „Es fehlen auch wesentliche Dinge wie Hefte und Stifte“, sagt Moswasi. „Früher bekamen wir diese oft durch Spenden von Touristen. Die haben uns auch einen Drucker und einen Laptop gekauft.“ Das Safari-Unternehmen Natural Selection hat der Schule gerade erst ein Toilettenhäuschen mit Wasserspülung finanziert. Von der Regierung erhofft sich Moswasi derzeit wenig Hilfe. „Die sind gerade damit beschäftigt, das Geld für die Impfungen zusammenzubekommen.“ Weil viele Eltern im Nationalpark und den Lodges arbeiten, fehle auch ihnen das Geld für die Schule. „Wir sind so frustriert über den Ausfall des Tourismus“, sagt die 49-Jährige, „aber wir hoffen, dass er bald zurück ist.“
Unweit der gewaltigen Salzpfannen von Makgadikgadi blickt Cobra Kepile über die in der Vormittagshitze flimmernde Savanne, durch die in weiter Ferne eine Herde Zebras auf dem Weg zu einem verbleibenden Wasserloch zieht. „Früher folgten unsere Vorfahren den Wanderbewegungen der Wildtiere“, sagt der 71-Jährige, „sie jagten Zebras und Antilopen. Dann zwang man sie, an einem Ort zu bleiben. Nun lernen die Jungen nichts mehr über die Natur.“ Kepile ist einer der letzten San, die heute noch im Umkreis der Salzpfannen leben.
Die San oder Buschmänner, wie sie oft auch abwertend genannt wurden, lebten seit Jahrtausenden als Jäger und Sammler im südlichen Afrika. Bereits in vorkolonialer Zeit wurden die kleinwüchsigen Nomaden von Bantuvölkern, aus dem Norden in immer trockenere Gebiete verdrängt. Europäische Siedler vertrieben sie schließlich auch von ihrem Farmland und aus ihren Jagdgebieten in der Kapregion. Zuletzt blieb den San nur noch die Kalahari als Rückzugsgebiet. Ihr traditionelles Nomadentum mussten sie aufgeben, und nun arbeiten sie meist als Viehhirten und Farmangestellte. In den letzten beiden Jahrzehnten versuchten einige auch vom zunehmenden Interesse des Tourismus an der Kalahari zu profitieren.
„Es ist wichtig, den Touristen unsere traditionelle Lebensweise zu zeigen“, sagt Kepile. Gemeinsam mit einer Gruppe San aus dem Dörfchen Xaxa unweit der namibischen Grenze, die nur in der Hauptreisezeit hier leben, führt er Touristen durch die Savanne nahe dem luxuriösen Jack’s Camp. Die Indigenen zeigen den Ausländern, welche Blätter, Rinden und Kräuter in einer lebensfeindlichen Gegend wie der Kalahari als Nahrung und Medizin dienen und wie man aus einer Wurzelknolle aus dem Wüstenboden eine Handvoll Wasser presst. Im Sand machen sie für das ungeschulte Auge kaum wahrnehmbare Tierspuren aus. Es ist die sprichwörtliche Kunst der San, Leben im Nichts zu finden.
„Die Regierung hat uns gezwungen, das Jagen aufzugeben“, sagt der 33-jährige Xhamme Xomae, „Geld für Lizenzen haben wir nicht. Jetzt kommt unser einziges Einkommen von den Touristen.“ Mit der Pandemie sei das Überleben für die Familien immer schwieriger geworden. Mit Sorge beobachten die San auch die Testbohrungen, mit denen das kanadische Öl- und Gas-Unternehmen ReconAfrica nicht weit von ihrem Dorf in Namibia begonnen hat. Viele fürchten, dass in Zukunft Öl in das angrenzende Flusssystem des Okavango gelangen könnte. Xomae sieht dadurch auch eine Gefahr für den Tourismus. Er hofft, dass mit den fortschreitenden Impfungen wieder mehr Menschen die Kalahari besuchen. „Die Zebrawanderung könnte ein Höhepunkt jeder Botswana-Reise sein“, sagt er, „aber noch immer haben nur wenige von ihr gehört.“
Am frühen Morgen darauf beobachtet Kagiso Villa Moatshe von seinem Safariwagen aus einen Erdwolf, der sich am Eingang seines Baus in den ersten Sonnenstrahlen wärmt. „Man muss schon riesiges Glück haben, um diese nachtaktiven Tiere irgendwo sonst zu sehen“, sagt der Guide, während er den gestreiften Hyänenverwandten beobachtet. Der Erdwolf scheint ganz entspannt. Viele Safari-Touristen kommen in die Kalahari, um seltene Tierarten zu beobachten, die in anderen Gegenden Afrikas rar sind oder gar nicht vorkommen. „Die Chancen stehen hier auch nicht schlecht, Erdferkel, Schabrackenhyänen und Erdmännchen zu sehen“, sagt Moatshe. Es sind alles Arten, die selbst langjährige Safari-Touristen nie zu Gesicht bekommen haben. Als der Erdwolf sich in seinen Bau verzieht, bricht Moatshe zu einer Stelle nahe den Salzpfannen auf, wo sich noch immer Wasser von der letzten Regenzeit staut. Unzählige Watvögel, Kiebitze und Regenpfeifer suchen im Uferschlick nach Fressbarem. Nicht weit davon zieht eine Gnuherde in einer schier endlosen Kette durch das seichte Wasser, gefolgt von einer Gruppe Zebras. „Das alles ist nur ein kleiner Eindruck davon, wie es früher einmal zur Zeit der großen Wanderung hier ausgesehen haben muss“, sagt der 33-Jährige. Als sich der Safariwagen langsam dem Ufer nähert, fliegt ein riesiger Schwarm Flamingos auf und färbt den Himmel über der Kalahari rosarot. „Für mich gibt es nichts Schöneres, als das hier jeden Tag neu zu erleben“, sagt der Guide. „Ich hoffe, dass eines Tages die Tiere hierher zu Tausenden zurückkehren. So wie es vor langer Zeit einmal war.“
DER WEG NACH BOTSWANA
Einreise: Botswana ist wieder relativ einfach zu erreichen, ein negativer PCR-Test vorgeschrieben: auswaertiges-amt.de.
Unterkünfte: Von den Gästezelten des Meno A Kwena-Camps von Natural Selection hat man eine magische Aussicht auf den Boteti-Fluss. Von hier aus kann man regelmäßig Elefanten und hunderte Zebras beobachten: ab 430 Euro/Nacht inkl. Vollverpflegung und Aktivitäten. Jack’s Camp nahe der Makgadikgadi-Salzpfannen gehört zu den erlesensten Lodges in Botswana: ab 1.250 Euro inkl. Vollverpflegung und Aktivitäten. Weitaus günstiger kommt man im Planet Baobab unter (ab 125 Euro), in dem man auch campen kann (ab 9 Euro).
Mehr unter naturalselection.travel und wilderness-safaris.com
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 24.11.2021 14:02 Uhr
