Kunststadt Goslar : Avantgarde mit Fachwerkkulisse
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Die andere Seite der Stadt: Goslars Fachwerkhäuser erinnern an eine lange Geschichte und ruhmreiche Vergangenheit. Bild: Picture-Alliance
Eine ganze Parade zeitgenössischer Skulpturen bevölkert die Straßen von Goslar und verwandelt die mittelalterliche Stadt in ein Freilichtmuseum der Moderne.
Diese korpulenten Herrschaften erscheinen hier irgendwie fehl am Platze. Davon lassen sie sich aber nichts anmerken, sondern tragen im Gegenteil mit dem Gleichmut hispanischer Granden ihr Fremdsein sogar zur Schau. Selbstbewusst und ein wenig trotzig stehen die beiden Dicken am Rosentor in Goslar, mollig und drall, feist und rosig. Sie sind vollendete Repräsentanten der fröhlich naiven Kunst des Kolumbianers Fernando Botero. Lateinamerikas berühmtester zeitgenössischer Maler und Bildhauer schwelgt mit Vorliebe in solch fülligen Rundungen. Kugelköpfe, Pausbacken und Schmerbäuche, ausladende Hüften, schwellende Oberschenkel und mächtige Popos sind die Merkmale seines Werks, nach seinen eigenen Worten „eine Verherrlichung des Lebens, die in der Sinnlichkeit der Formen liegt“. Doch wie haben sich „Frau mit Schirm“ und „Mann mit Stock“, dieses gewichtige südamerikanische Pärchen, ausgerechnet in die Niederungen der niedersächsischen Provinz verirrt? Was treiben die beiden Fremden zwischen Fachwerk und mittelalterlicher Stadtmauer?
Des Rätsels Lösung liegt im Goslarer Kaiserring, einem internationalen Preis zur Förderung zeitgenössischer Kunst, der seit 1975 jedes Jahr verliehen wird. Im Rahmen der Preisvergabe sollte jeweils eine Ausstellung des Künstlers stattfinden und nach Möglichkeit auch mindestens eines seiner Werke in der Stadt bleiben. Die Auszeichnung ist nicht dotiert, aber vom Kaiserring, entworfen vom Worpsweder Goldschmied Hadfried Rinke, wird für jeden Preisträger ein Unikat angefertigt. Auch wenn schon im Namen angedeutet ist, dass hier eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart gespannt werden soll, war die Hinwendung zur Kunst der Moderne damals ein gewagtes Experiment – in einer Stadt, die in erster Linie stolz war auf ihre ruhmreiche Geschichte als Bergbauzentrum und auf ihr intaktes mittelalterliches Stadtbild, beides mittlerweile von der UNESCO als Weltkulturerbe ausgezeichnet. Noch immer staunt manch einer darüber, dass ausgerechnet in dieser kleinstädtischen Umgebung am Fuß des Harzes einer der bedeutendsten Kunstpreise Deutschlands ins Leben gerufen wurde und dass er sein Renommee im Laufe der Zeit beibehalten und sogar noch steigern konnte.
Im Hinterhof der Weltgeschichte
Vielleicht lag es an der gelungenen Initialzündung, denn mit Henry Moore, dem ersten Preisträger, landete man gleich einen Coup. Durch eine Schenkung konnte seine kolossale Statue „Fallen Warrior“ nicht nur in Goslar aufgestellt werden, sondern der Künstler benannte sie auch zugkräftig in „Goslar Warrior“ um. Er selbst wählte ihren zukünftigen Standort: ein wenig versteckt im Garten hinter der Kaiserpfalz. Während vor dem prachtvollen Gebäude, im elften Jahrhundert als „berühmtester Wohnsitz des Reiches“ gepriesen, die deutschen Kaiser Friedrich Barbarossa und Wilhelm I. auf steinernen Sockeln stolz zu Pferde thronen, liegt der stilisierte Torso des anonym sterbenden Kriegers im Hinterhof der Weltgeschichte – eine bewusst symbolische Platzierung durch den Künstler. Vielleicht jedoch hatten er und die Stadt Goslar damals auch Bedenken, die extravagante Bronzeplastik auffällig und provokativ vor der Kaiserpfalz oder zwischen den mittelalterlichen Mauern aufzustellen.