Im Winter nichts trostloser, im Sommer nichts himmlischer
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Die düstere Seite der Romantik: Shannon Beer als Catherine Earnshaw in Andrea Arnolds Verfilmung von „Wuthering Heights“ aus dem Jahr 2011. Bild: Imago
Auf den Spuren der Brontë-Schwestern in Yorkshire geht es durch die von Hügeln eingeschlossenen Täler und diese mächtigen, steilen Wogen der Heide.
Yorkshire im Norden Englands ist das Land der frischen Luft und stürmischen Höhen. Und ausgerechnet Haworth – ein Ortsname wie ein Raucherhusten – ist darin so etwas wie der magnetische Pol. Denn in Haworth lebten und schrieben um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë, stolze, scheue Frauen, Pfarrerstöchter und Bestsellerautorinnen. Die mit großen Kopfsteinen gepflasterte Hauptstraße, deren Bürgersteige in Stufen hügelan klettern, führt hinauf zum Dorfrand, zur Kirche, zum Friedhof und zum Pfarrhaus, das auf der Grenze zwischen der bewohnten und unbewohnten Welt liegt. Dahinter beginnen Moor und Heide und mit ihr die Freiheit, herumzustrolchen, zu spielen, zu phantasieren, zu träumen und zu dichten. In Emily Brontës Roman „Sturmhöhe“, einem Klassiker der Weltliteratur, ist sie Schauplatz einer tragischen, brutalen Familiengeschichte und einer unsterblichen Liebe. „Im Winter nichts trostloser . . .“
Aber im Sommer! Ein hoher Himmel, Wolkengebirge. Und im September, wenn die Heide blüht, ein rollendes Meer violetter Wellen. Steinmauern laufen wie Nähte über die baumlosen Berge, und der Wind jagt Wolkenschatten übers Land. Wenn er schweigt, hört man die Schafe das kurze Gras rupfen.
Böse Worte und bissige Hunde
Und natürlich ist hier jeder Gang auch eine literarische Pilgerreise: zum Brontë-Wasserfall, nach Ponden Hall, zu den Klippen von Penistone und nach Top Withens, vier Meilen hinter Haworth, ein einsames Gehöft, das Emily B. als Vorlage für Wuthering Heights, das umwetterte und schwerst ungastliche Haus von Mr Heathcliff, gedient haben soll. Mr Lockwood, der dort Schutz sucht, widerfährt nur Unbill: böse Worte, bissige Hunde, die kalte Hand eines Nachtgespenst, das durchs zerbrochene Fenster zu ihm eindringen will – und nicht einmal eine Tasse Tee. Dazu draußen ein Schneesturm.
Aber im Sommer! Vor zweihundert Jahren rannten sechs kleine Brontë-Geschwister den Schmetterlingen auf der Heide hinterher; und später, als sie nur noch zu dritt waren – Charlotte, Emily und Anne – gingen sie dort Arm in Arm spazieren, schleiften die Kleidersäume durchs Heidekraut, sprangen über die Trittsteine im Bach und kraxelten den Hang zu dem einzigen Gebäude hinauf, über das sich ein paar windschiefe Kiefern beugten und mit ihren Zweigen an die Fenster pochten. Damals war Top Withens von einer Bauernfamilie bewohnt, und man darf unterstellen, dass den Töchtern des Reverend B. sehr wohl eine Tasse Tee angeboten wurde.
Heute eine gut gesicherte Ruine, glich es schon damals nicht wirklich dem stattlichen Wuthering Heights aus dem Roman. Macht nichts. Emily war hier. Sie hat das Moor geliebt und die Aussicht von dort oben: nur Himmel und Erde und ein Spalt im Gewölk, in dem die Goldmünze der Sonne schwimmt, ehe die grauen Bärte der Regenwolken wieder über die Hügel heranschleifen. Auch im Sommer. „‚Wuthering‘ war ein treffender mundartlicher Ausdruck, der den atmosphärischen Aufruhr beschreibt, dem der Ort bei stürmischem Wetter ausgesetzt ist“, heißt es im ersten Kapitel.
Mit einem Mund voller Apfelkuchen
In Konkurrenz zu Top Withens als Inspiration steht Ponden Hall bei Stanbury, von Haworth ein Spaziergang von drei Meilen, auf einem Hügel gelegen mit Blick über den Stausee von Ponden. Da sich die Autorin zur Lokalität nicht geäußert hat, gilt die Jahreszahl 1801, die über den Türsims eingemeißelt ist – das Datum, mit dem der Roman beginnt –, als Beleg. Außerdem verfügte ein Zimmer gegenüber der Bibliothek über die Reste eines Alkovenbetts. Hat Emily es gesehen, als sie mit ihren Schwestern die gut sortierte Bibliothek von Ponden Hall besuchte? Die Vorbesitzerin des Ponden Hall Bed & Breakfast ließ in einem Dachzimmer die Replik dieses Möbels einbauen, allerdings in sicherer Entfernung vom Fenster.