Abschied von gestern (1) : Dort, wo die Glocken klingen hell
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Die Kirche im Dorf, der Berg darüber: Bayrischzell am Wendelstein Bild: Freddy Langer
In diesem Tal liegt Bayrischzell. Besuch in einem Dorf, das man wie durch einen Zeittunnel betritt.
Fünfundvierzig Cent, sagt Willi Huber und zuckt kaum merklich mit den Schultern, mehr habe er an diesem Tag bisher nicht eingenommen. Für eine Briefmarke, sagt er. Und dass der Kunde seine eigene Ansichtskarte mit in den Laden gebracht habe, sagt er, und dann geht ihm doch, als würde ihm erst jetzt die Unverfrorenheit dieses Kunden vollends bewusst, ein wenig die Hutschnur hoch. Zumal es in Bayrischzell nirgendwo schönere Ansichtskarten gibt als in seinem Geschäft. Das allerdings sagt er nicht. Das stellt sich allmählich heraus, als er anfängt, Schachteln zu öffnen und Mappen aufzuklappen. Immer mehr Schachteln. Immer mehr Mappen. Immer höher wird der Stapel mit den Ansichtskarten. Viele von ihm fotografiert. Und dann sagt er irgendwann, fast beiläufig, dass in seinem Lager weitere fünfzigtausend liegen.

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das „Reiseblatt“.
Der Blick von links aufs Dorf hinunter, vom Seeberg aus. Der Blick von rechts aufs Dorf hinunter, vom Vogelsang aus. Der Blick die Hauptstraße hinauf, mit dem Wendelstein im Hintergrund. Der Blick die Hauptstraße hinunter, mit der Kirche im Zentrum. Die frühen Karten sind noch schwarzweiß, die späteren handkoloriert, die meisten freilich farbig. Und auf vielen steht als Urlaubsgruß ein zweizeiliger Reim, wonach Bayrischzell in einem Tal liegt, in dem die Glocken hell klingen.
Die Motive ändern sich nur in den Details: Hier parkt ein Buckel-Mercedes vor einem Haus, dort ein VW-Käfer, da immerhin schon ein Opel Kadett. So lang ist das her! Der Ort hingegen scheint immer gleich. Bis plötzlich vor dem alten Rathaus das Brünnlein fehlt oder das neue Rathaus dort steht, wo zuvor das Bauernhaus des Steffhofs zu sehen war. Doch das bleiben letztlich Marginalien. Und man könnte Willi Huber nicht guten Gewissens den Chronisten des Ortes nennen, wenn er nicht auch die Taufen, die Kommunionsfeiern, die Hochzeiten, die Feste des Schützenvereins und alle Klassenfotos in der Grundschule aufgenommen hätte. Sechzig Jahre lang. Fast ein Menschenleben. Wer weiß, vielleicht könnte Willi Huber mit seinen Bildern nicht nur die Geschichte des Ortes erzählen, sondern in einer Art optischen Sturmschritts auch die all seiner Bewohner. „Foto Huber“ steht noch immer in Großbuchstaben über seinem kleinen Geschäft in der winzigen Fußgängerzone von Bayrischzell. Aber mit Fotografie hat Willi Huber kaum noch etwas zu tun. Heute verkauft er Andenken. Oder eben nicht.
Noblesse in Trachtenjacke und Kniebundhose
Es geht nicht mehr, sagt Willi Huber, der jetzt neunundsiebzig Jahre alt ist. Aus. Vorbei. Aber den Laden will er trotzdem nicht aufgeben. Den könne er gar nicht aufgeben, selbst wenn er wollte, sagt er. Er habe ja nichts anderes. Dann steht er einen Moment lang in all seiner Noblesse still da, in seiner Trachtenjacke und seiner Kniebundhose mit dem sehr scharfen Blick aus seinen sehr kleinen Augen, bevor er weiterkramt und ein Schwarzweißfoto von Adolf Hitler findet, wie der im offenen Wagen durch Bayrischzell fährt, und eines von Holzknechten, die sich am Berg aus dünnen Stämmen einen Unterschlupf gebastelt haben, und schließlich die Sicht vom Wendelstein hinunter auf den Ort, der aus kaum mehr besteht als einer Handvoll Höfe um die Kirche herum. Da freilich ist er schon im Archiv seines Vaters gelandet, Hans Huber. „Spezialgeschäft für Landschaftsfotografie“ ist auf die Rückseite der Bilder gedruckt.