Abschied von gestern (1) : Dort, wo die Glocken klingen hell
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Damals muss es auch ein Nachtleben gegeben haben, so einzigartig, dass selbst die Münchner am Freitagabend nach Bayrischzell gefahren sind. Da gab es die Nachtbar „Green Island“, die dem Schlagersänger Christian Anders gehörte. Da führte der Künstler Happ den „Lukas Keller“, den man nur über eine Rutsche erreichte. Im Heuschober lief bis zum Sonnenaufgang Musik. Und der Vater von Gunter Sachs soll überlegt haben, hier groß einzusteigen und ein Zentrum zu bauen wie in Innzell. Seine Freunde waren ja alle schon da: von Luckner, von Schönborn, Thurn und Taxis - die Liste derer, die zur Jagd her kamen oder hier gar ein Herrenhaus besaßen, liest sich wie das Register des deutschen Hochadels. Doch der Plan zerschlug sich. Und auch die Tennishalle wurde nie gebaut. Und nie der Golfplatz am Fuße des Wendelsteins, der der am höchsten gelegene Golfplatz Deutschlands hätte werden können.
Die riesengroße Linde zu Ehren des Königs
Das „Deutsche Haus“ im Übrigen gibt es seit einiger Zeit nicht mehr. Ein arabischer Investor hatte es gekauft, doch der Umbau stockte, und weil deshalb jahrelang eine Ruine die Umgebung des Dorfbahnhofs prägte, um es ganz vorsichtig zu formulieren, kaufte die Gemeinde irgendwann das Haus und riss es kurzerhand ab. Ein Spiel, das sich in naher Zukunft hoffentlich nicht wiederholt. Denn seit einiger Zeit schon wird ein Investor gesucht, der ein ehemaliges Ferienheim in ein Familienhotel umwandelt. Und das schönste Gasthaus im Ort steht zum Verkauf, weil der Sohn, der es übernehmen sollte, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Damit endet für den Familienbetrieb eine Geschichte, die sich zweihundert Jahre lang zurückverfolgen lässt.
Bayrischzell ist der Traum von einem Dorf. Mit einer wunderschön ausgemalten Barockkirche im Zentrum. Mit einem wunderschönen Biergarten unter riesigen Kastanien unmittelbar gegenüber der Kirche. Mit einem Bauernhof wiederum gleich neben dem Gasthaus, vor dessen Tor sechs Kälber auf einer kleinen Weide stehen und fröhlich mit ihren Kuhglocken bimmeln. Mit einer riesengroßen Linde, die einst zu Ehren des durchreisenden Königs gepflanzt wurde. Mit einem Bach, der mitten durch den Ort führt und vor sich hin murmelt. Mit dem schönsten Hausberg, dem Wendelstein. Mit herrlichen Wanderwegen, von denen aus man bis in die Unendlichkeit blickt, dass einem schwindelig wird angesichts des Aufs und Abs der Gipfel und der gestaffelten Kämme von den Bechtesgadener Alpen bis zum Karwendelgebirge. Mit dem größten Skigebiet Deutschlands. Und mit einem kleinen Waldschwimmbad am Hang.
Es ist ein Dorf wie aus dem Bilderbuch, dessen größter Reiz heute darin besteht, dass es mit seinen Reizen nicht protzt. Dass es seit Jahrzehnten keinen Trends mehr folgt. Was andernorts zum Modebegriff geworden ist und mit aufwendigen Konzepten eingeführt wurde, ist hier Alltag: Entschleunigung.