La Gomera : Hexen gibt es nicht
- -Aktualisiert am
Urgewaltig ist auf La Gomera nicht nur das Meer. Bild: Markus Huth
Oder vielleicht doch? Auf der Kanareninsel La Gomera sind Aberglauben, Legenden und Mythen unzertrennlich mit der vulkanischen Landschaft verbunden.
Als die Dunkelheit naht, taucht der Gedanke auf, ob das hier wirklich so eine gute Idee ist. Sollten Hexen wirklich auftauchen, gäbe es nur zwei Optionen: Wegrennen oder Kontaktaufnahme. „Hallo, wie geht’s denn so? Bitte opfern Sie mich nicht dem Teufel.“ Vielleicht wäre Flucht doch besser. Die Einheimischen raten, Ärmel und Hosenbeine hochzukrempeln, das schütze vor bösem Zauber. Blöd nur, dass man im subtropischen Klima La Gomeras Shorts und Shirt trägt, da gibt’s nichts zum Krempeln.
Plötzlich schrillt ein Schrei über die menschenleere Lichtung. War das ein Mensch oder ein Vogel? Die knorrigen Bäume am Waldrand winken wie zur Warnung mit erhobenen Ästen im Wind. Das aufgehende Mondlicht fällt direkt auf den mysteriösen Kreis aus Steinen im Zentrum der Laguna Grande, einer großen Lichtung hoch oben im Lorbeerwald der Kanareninsel. Hier sollen sich, da sind sich die Insulaner sicher, früher Hexen versammelt und allen möglichen Spuk veranstaltet haben. Noch heute gehe es nicht mit rechten Dingen zu.
Das Übernatürliche ist ganz selbstverständlich
Dass La Gomera den Beinamen „La Isla Mágica“ trägt, liegt nicht nur an den bezaubernden Berg- und Küstenlandschaften. In jedem Dorf bekommt man Geschichten von übernatürlichen Vorfällen zu hören. Eine Mischung aus dem europäischen Aberglauben spanischer Kolonisten und Legenden der gomeranischen Ureinwohner, gewürzt mit etwas Santería-Kult, einer Verbindung aus Mythen und Katholizismus, den zurückgekehrte Auswanderer aus Kuba mitgebracht haben. Kurzum: Obwohl die Gomeros gute Katholiken sind, ist die Existenz des Übernatürlichen für sie ganz selbstverständlich.
Dass es Magie wirklich gibt, glaubt auch die 91-jährige Flora, eine der ältesten Frauen auf La Gomera. Sie lebt im kleinen Dorf Alojera, das sich an der Nordküste vor dem blauen Atlantik an einen Berghang krallt. Die Dorfbewohner betrachten Flora als weise Frau mit übernatürlichen Fähigkeiten. „Aber ich bin keine Hexe“, wehrt die rüstige kleine Frau mit den kurzen grauen Haaren empört ab. Hexen würden „schwarze“ Magie zum Schaden einsetzen. Sie aber benutze „weiße“ Magie, um anderen zu helfen. Flora sieht sich als Heilerin, die per Fernzauber Krankheiten wie Grippe, Fieber, Bauchschmerzen oder Schlimmeres behandeln kann.
Wer ihr kleines Haus unweit von Palmen und einem Weinberg betritt, dem fällt sofort die Vielzahl der Fotos auf, die die Wände und Tischchen der Zimmer schmücken. Sie zeigen Familienangehörige, für die Flora regelmäßig ihre magischen Heilkräfte wirken lässt. In Schränkchen und Schubladen liegen zusätzlich noch Fotos und persönliche Gegenstände von anderen Menschen, die wollen, dass die Heilerin ihnen hilft. Damit will Flora eine Verbindung zwischen sich, dem Patienten und der übernatürlichen Sphäre herstellen.
Böse Blicke aus der Nachbarschaft
Für Demonstrationszwecke nimmt die 91-Jährige die Mütze eines Kleinkinds in die Hand, das derzeit viel hustet. Sie schließt die Augen und murmelt wie in Trance spanische Worte. Es klingt nach Zaubersprüchen, sind aber christliche Gebete. Für Flora sind die Grenzen fließend. Sie ist davon überzeugt, dass ihre magische Kraft von Gott stammt. Wenn die Krankheit besonders stark sei, sagt Flora, müsse sie gähnen, weinen oder spüre Erschöpfung. Die Ursache des Übels ist meistens dieselbe: „böse Blicke“ von Feinden aus der Nachbarschaft. Stammt der böse Blick von einer Frau, spürt Flora Erschöpfung während des Ave Marias; stammt er von einem Mann, beim Vaterunser.