Im Glashaus in Schweden : Einsamkeit mit Notausgang
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Vielleicht haben die Wissenschaftler recht, die behaupten, dass eine grüne Umgebung lindert und heilt: 72-Stunden-Glashäuschen in Schweden. Bild: Jonas Ingman / imagebank.sweden.se
Kann die Natur Schwedens den rastlosen Geist eines Büromenschen besänftigen? Über 72 Stunden im Rausch des Waldes – und ein nahes Hotel für alle jene, die das nicht aushalten.
Am zweiten Tag in der Wildnis ist die letzte Verbindung zur Außenwelt gerissen. In ein schwarzes Nichts hat sich der Bildschirm meines Handys verwandelt. Wasser ist hinein gesickert, nachdem das Kajak gekentert ist, am felsigen Ufer des Laxsjöns, eines Sees im tiefen Westen Schwedens. Das Ungeschick eines Kopfmenschen aus der Großstadt, der hemdsärmelig sein wollte und schon beim Einstieg in ein kleines Boot die Balance verloren hat. Zuhause in Berlin hätte ich wegen des kaputten Geräts längst getobt wie ein Kleinkind. Hier, in der Abgeschiedenheit der skandinavischen Einöde, verursacht dessen Havarie nur einen kurzen Trennungsschmerz.
Auf der Halbinsel Baldersnäs, in Dalsland, einer Region, wo pro Quadratkilometer nur elf Menschen leben, mache ich zwischen Stock, Stein und ruhenden Gewässern einen Versuch. Wie kann Müßiggang in dieser Kulisse den rastlosen Geist eines Internet-Junkies, Büroarbeiters und Metropolenmenschen besänftigen?
Mein Rückzugsort ist eine Hütte auf einem bemoosten Hang am See: die Kemenate eines Zivilisationsflüchtigen, auf einer Fläche von fünf Quadratmetern. Gebaut ist das Giebelhäuschen größtenteils als Glas – um freie Sicht auf den Spielplan im Naturtheater zu haben, auf Cumulus-Wolken tagsüber, auf weiße Nächte, auf Waldkäuze und Elstern, auf raschelndes Blätterwerk. Dem Aufenthalt an diesem Atrium und der Flora und Fauna drumherum attestiert die lokale Tourismusbehörde eine fast schon übernatürliche Wirkung. „Stress und Anforderung des Alltags würden begraben“, versprechen sie. Man wolle „den Rest der Welt dazu einladen, den entspannenden Effekt der schwedischen Natur zu erleben“.
Die Natur als Sanatorium
Acht dieser Hütten gibt es in Dalsland, verstreut auf den Arealen von Ferienanlagen. Entworfen hat sie Jeanna Berger, eine junge Architektin aus der Region; vor etwas mehr als zwei Jahren wurde das erste Exemplar in die Botanik gezimmert. „72-Hour-Cabins“ haben PR-Leute die minimalistischen Gehäuse genannt – weil drei Tage schon ausreichen würden, um Stresshormone abzubauen und den Cortisol-Spiegel zu senken. Herangeführt wird dabei eine Studie von Stressforschern. Sie haben Karrieristen aus Städten wie New York, Paris oder London in die Häuschen eingeladen und nach ihren Auszeiten die Blutwerte gemessen. Meine Hütte steht auf dem Grundstück eines Herrenhauses aus dem frühen 20. Jahrhundert, das heute ein gediegenes Hotel ist – im verwilderten Teil des Parks, der das Gebäude säumt.
Die Entschleunigung in der Idylle ist die neueste Facette eines touristischen Massenphänomens: der Teilzeit-Ausstieg von Großstädtern aus der Monotonie ihres Büro-Lebens, aus der Verschmelzung mit ihren digitalen Endgeräten. Immer mehr Workaholics aus der westlichen Welt pilgern zu Orten der Besinnung, ob in Yoga-Retreats auf Costa Rica oder Schweigeklöster in Myanmar. Nun wird die Natur vor der eigenen Haustür als Sanatorium entdeckt – eine Weltflucht, die müde Eskapisten bereits im mittleren 19. Jahrhundert angetreten haben.
Es geht darum, Routinen zu verlernen
Damals veröffentlichte der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau seine vielzitierte Einsiedelei „Walden“, die Bibel aller Aussteiger. In eine Blockhütte in Neuengland war der Einzelgänger gezogen, an einem naturtrüben See, nur ein paar Kilometer von seiner Geburtsstadt entfernt. Thoreau wollte sich dort auf Sinnsuche begeben. Er plante, „dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte“.
Doch was ist die Lektion aus dem Leben im Bann der „72-hour-Cabin“? Es geht vor allem darum, Routinen zu verlernen. Morgens weckt mich das Dämmerlicht des anbrechenden Tags – während der Handy-Alarm, der mich sonst aus dem Schlaf reißt, nur als leises Echo im Unbewussten nachhallt. Abends ist der Regen mein Nachtradio, er trommelt aufs Dach wie die Finger eines Percussionisten auf eine Bongo. Übrigens beschert das Wetter an diesem Ort keine sonnendurchfluteten Motive für den Instagram-Account. Ein Trip ins skandinavische Outback hat mit den Bahamas nun einmal so wenig zu tun wie ein Knäckebrot mit einer Kokosnuss. Meine Meditationen: Pfifferlinge suchen im Wald, vergeblich auf Lichtungen nach Elchen schauen. Zerstreute Wanderungen durchs Unterholz, wie sie auch Thoreau in seiner berühmten Schrift beschreibt, die mein Reisebuch ist.