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Volkszählung 1987 : Bürgerprotest und Boykott-Initiativen

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Demonstranten protestieren am 16. Mai 1987 in Berlin gegen die Volkszählung

Demonstranten protestieren am 16. Mai 1987 in Berlin gegen die Volkszählung Bild: picture-alliance/ dpa

Nach 1945 fanden im geteilten Deutschland acht Volkszählungen statt - bis 1983. Ursprünglich wollte die Bundesrepublik in jenem Jahr eine Inventur machen. Aber erst vier Jahre später wurde die Zählung unter großem Protest durchgeführt.

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          Vor beinahe dreißig Jahren wurde in Deutschland heftig protestiert: Gegen Atomkraft, gegen den Nato-Doppelbeschluss und gegen die Volkszählung, bei der alle Volljährigen unter anderem über ihre Wohnsituation und ihre Erwerbstätigkeit befragt werden sollten. Selbst das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich nach einer Klage mit der Volkszählung und bremste mit seinem Urteil die Pläne der Bundesregierung aus.

          Das höchste Gericht des Landes sprach den Bürgern das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu. Es war geschaffen worden, um die Daten der Bürger zu schützen. Jeder Bürger darf „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen“, hieß es in der Urteilsbegründung. Die Volkszählung als solche wurde nicht beanstandet, wohl aber die geplante Umsetzung. Ursprünglich sollten die erhobenen Daten an die Melderegister zurückgesandt werden, um die Datenbank zu reinigen und auf den aktuellsten Stand zu bringen. Darauf wurde, mit Blick auf die neue Rechtslage, verzichtet.

          Das überarbeitete Volkszählungsgesetz verlangte außerdem Namen und Anschriften so früh wie möglich von den anderen Daten zu trennen, um größtmögliche Anonymität herzustellen. Die Befragten durften, auch das eine Neuerung, die Bögen alleine ausfüllen und mussten dies nicht in Gegenwart des Zählers tun, der im Übrigen kein Nachbar des Befragten sein durfte. Laut Gesetz mussten für die Volkszählung außerdem Sonderbehörden eingerichtet, die räumlich, personell und organisatorisch von den Verwaltungsämtern getrennt werden sollten. Das war vor allem in bevölkerungsarmen Gegenden jedoch kaum durchzusetzen.

          Gründung von „VoBo-Inis“

          Die Skepsis gegenüber der Volkszählung war zeitweilig so groß, dass sie die Hälfte der Bevölkerung ablehnte. Wie schon im Jahr 1983 schlossen sich auch vier Jahre später Tausende Volkszählungskritiker in „VoBo-Inis“ (Volkszählungsboykott-Initiativen) zusammen: Sie demonstrierten und wollten die Bevölkerung über die Gefahren der Volkszählung aufklären. Auf Bannern und Plakaten standen die Sprüche „Zählt nicht uns, zählt eure Tage!“ oder „Nur Schafe lassen sich zählen“. Von dem Boykott-Ratgeber „Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können“ wurden bis April 1987 eine Viertelmillion Exemplare verkauft.

          Es war eine breite Bürgerrechtsbewegung, ein Querschnitt der Bevölkerung“, sagt einer, der 1987 dabei war: Der Student Bernd Drücke war in der Volkszählungsboykott-Initiative in Münster aktiv und verkaufte in der Innenstadt das Buch „Restrisiko Mensch“, in dem dazu aufgerufen wurde, die Kennummer aus dem Volkszählungsbogen herauszuschneiden und den Bogen bei der örtlichen VoBo-Initiative abzugeben. Ohne die Kennummer am oberen Rand des Fragebogens konnte dieser nicht mehr zugeordnet werden.

          Die Volkszählungsgegner bewiesen Kreativität. Vor einem Heimspiel von Borussia Dortmund im Mai 1987 hatten Volkszählungskritiker mit weißer Farbe auf den Rasen des Fußballstadions die Aufforderung „Boykottiert und sabotiert die Volkszählung“ geschrieben. Da sich die Farbe nicht vom Rasen lösen ließ, ergänzte man nach Rücksprache mit dem Bundespräsidenten den Satz und dreht die Aussage um: „Der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht.“

          „10 Minuten, die allen helfen“

          Die Fronten zwischen den Befürwortern und Kritikern der Volkszählung waren verhärtet. Die Bundesregierung bezahlte 1987 mehrere Millionen Mark für eine großangelegte Werbekampagne mit dem Slogan „10 Minuten, die allen helfen.“, die die Bürger von dem Sinn der Volkszählung überzeugen und sie sanft zum Mitmachen drängen sollte. Öffentliche Boykott-Aufrufe wurden von der Staatsgewalt als Straftat bewertet. Die Polizei führte Razzien durch und beschlagnahmte kritische Druckschriften, die Boykott-Tipps gaben. Aller Boykott-Aufrufe zum Trotz begann die Volkszählung wie geplant im Mai 1987.

          Gegen Bernd Drücke kam es im November 1987 zum Prozess, weil er das Buch „Restrisiko Mensch“ verkauft hatte, das zum Volkszählungs-Boykott aufrief. Der Gerichtstermin glich einem „Happening“, sagt Drücke heute. Das Publikum war unruhig und reizte den Richter mit Zwischenrufen. Am Ende musste Drücke eine Geldbuße in Höhe von rund 750 Mark bezahlen.

          Einige Monate später zeigte sich die Bundesregierung zufrieden mit dem Ablauf der Volkszählung. Die meisten Deutschen hatten trotzdem ihre Fragebögen ausgefüllt und dafür gesorgt, dass ein repräsentatives Ergebnis zustande kommen konnte. Sowohl der Staat als auch die Kritiker fühlten sich als Sieger im „Kampf“ um die Volkszählung. Bei der VoBo-Initiative in Münster sind zwar höchstens 17.000 Bögen abgegeben worden, lange nicht soviel, wie erhofft, aber die VoBo-Bewegung sei trotzdem ein Erfolg gewesen, sagt Drücke. Dass es bis zu diesem Jahr seit 1987 keine Volkszählung gegeben habe, sei auch ein Verdienst der Protestbewegung.

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