Außenpolitische Zeitenwende : Vertreibung aus dem Wolkenkuckucksheim
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Stehender Applaus für eine historische Kehrtwende in der deutschen Sicherheitspolitik: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar im Bundestag Bild: AP
Bis zu Putins Überfall auf die Ukraine gab sich Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges der Illusion hin, ohne militärische Stärke Bedrohungen abwehren zu können. Warum konnte sich diese deutsche Außenpolitik so lange halten? Ein Gastbeitrag.
Der Begriff Zeitenwende hat beste Chancen, von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2022 gekürt zu werden. Mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zerbrach binnen Stunden eine Jahrzehnte währende europäische Friedensordnung und riss wie ein Tsunami scheinbar in Stein gemeißelte Grundsätze deutscher Außen-und Sicherheitspolitik mit sich fort.
Nicht nur das: mit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) drei Tage später bekannten sich die drei Parteien der Ampelkoalition, unterstützt von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in nie dagewesener Klarheit zu diesem atemberaubenden Paradigmenwechsel. Gleichzeitig stellen sie damit beträchtliche Teile ihres bisherigen Regierungsprogramms in Frage.
Auferstehung der Bundeswehr aus Ruinen, Zwei- Prozent Ziel, Sondervermögen für die deutschen Streitkräfte in Höhe von 100 Milliarden Euro, letale Waffenlieferungen an die Ukraine, sektorale Suspendierung von SWIFT gegenüber Russland, Nord Stream 2, schärfste Sanktionen, ja die gesamte Russlandpolitik: über Nacht wurden jahrzehntealte heilige Kühe der deutschen Politik geschlachtet! Was der historische Auslöser dieser Zeitenwende war, ist bekannt. Die Tatsache, dass Deutschland im Verbund mit seinen europäischen und transatlantischen Partnern gar keine andere Wahl blieb, ebenso.
In einer sicherheitspolitischen Kuschelecke
Aber warum konnte sich das außen-und sicherheitspolitische deutsche Wolkenkuckucksheim nach Ende des Kalten Krieges, also seit dem Jahr 1990 so lange und so hartnäckig gegen alle Widrigkeiten halten? Wer als Begründung einzig auf die „Politik“ verweist, macht es sich zu einfach. Tatsächlich hatte sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft in einer sicherheitspolitischen Kuschelecke behaglich eingerichtet. Der Ausspruch von Hans-Dietrich Genscher im Jahr 1990 „ Nun sind wir nur noch von Freunden umgeben“ war nach Jahrzehnten der deutschen Teilung und des Ost-West-Gegensatzes Balsam für die geschundene deutsche Seele und gleichzeitig eine richtungsweisende Schlaftablette mit Langzeitwirkung. Wie konnte es dazu kommen?
Mindestens vier Faktoren erscheinen mir beachtenswert.
1. Der lange Schatten der deutschen Geschichte. Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und die Ermordung der Juden in Europa waren eine im globalen geschichtlichen Maßstab nie dagewesene moralische Bankrotterklärung. Die Schande der nationalsozialistischen Verbrechen wirkt als Hintergrundfolie bis heute auch und gerade auf unsere außen-und sicherheitspolitische Identität ein. Das kostbare Sonderverhältnis zu Israel ist das herausragendste Beispiel.
Das „Nie wieder“ wurde unter anderem bis vor wenigen Tagen als Begründung dafür angeführt, keine letalen Waffen an die Ukraine zu liefern. Die gesamte deutsche Außen-und Sicherheitspolitik war und wird folgerichtig dauerhaft mit dieser historisch-moralischen Dimension versehen sein, die auch künftige Generationen binden muss. An diesem Befund darf auch die jetzige Zeitenwende nichts ändern.
2. Nach zwei Weltkriegen und Jahrzehnten eines Kalten Krieges einschließlich der deutschen Teilung mit allen existentiellen Spannungen und mentalen Anspannungen eines jeden Deutschen, erlaubte das vermeintliche „Ende der Geschichte " (Francis Fukuyama) schließlich ein gesamtgesellschaftliches Durchatmen.
Aktuelle Informationen, Grafiken und Bilder zum Angriff auf die Ukraine finden Sie auf unserer Sonderseite
ZUR SONDERSEITEDie deutsche Spaßgesellschaft wurde geboren und mit ihr eine Aversion gegen alles, was die gute Laune trüben konnte. Die Welt um uns herum mochte durch noch so große Turbulenzen gehen, der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nach 9/11 (2001), russische Aggressionen gegen Georgien ( 2008) und die Ukraine ( 2014), der Krieg in Syrien : die deutsche Gesellschaft und mit ihr die Politik als Spiegel dieser Gesellschaft blickte lieber nach innen und baute einen gigantischen Sozialstaat auf, betrieb Nabelschau und entdeckte neue Befindlichkeiten wie zuletzt das Gendern. All dies lenkte so vortrefflich von äußeren Zumutungen ab, vom Klimawandel und der Flüchtlingskrise 2015/16 einmal abgesehen. Der Bundeswehr wurde die Rolle einer bewaffneten Freiwilligen Feuerwehr zugewiesen, mit Brosamen alimentiert.
3..Damit unterscheidet sich die deutsche Gesellschaft so grundlegend von vergleichbaren europäischen Gesellschaften wie der französischen und britischen. Warum ? Letztere blicken durch eine vollkommen andere, historisch ungebrochene Brille auf diese Welt.
Die herausgehobene Stellung als Ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat und als Nuklearmächte mit je eigenen Territorien weit jenseits ihrer europäischen Geographie ( französische Territorien in Pazifik und Karibik, die britischen Falklandinseln und das Commonwealth ) zwingen beide Nationen zu einem 360-Grad-Blick auf die globale Landkarte. Während Deutschland etwa alle sieben Jahre im UN-Sicherheitsrat als nichtständiges Mitglied vorbeischaut und diesen nach zwei Jahren in der Regel mit Schrammen und Verkrampfungen wieder verlässt, sehen sich Paris und London täglich, jahrein und jahraus in der Pflicht, unbequemen Wahrheiten zu trotzen und Position zu beziehen.
Die Menschen in beiden Ländern bejahen diese globale Verantwortung und ihre militärische Unterlegung einschließlich der nuklearen Dimension. Daher genießen die Streitkräfte in Frankreich und Großbritannien höchste gesellschaftliche Wertschätzung als Instrument einer souveränen, selbstbestimmten Sicherheitspolitik, was sich in deren unumstrittener Finanzierung manifestiert. Deutschland besitzt einen völlig anderen Erfahrungshorizont.
4. Führende Politiker und mehrere Bundespräsidenten haben es in den vergangenen zwanzig Jahren nicht geschafft, uns aus den süßen Träumen der Selbstvergessenheit und aus der sicherheitspolitischen Kuschelecke zu reißen. Von Freunden umgeben, eingebettet in EU und NATO, was sollte unsere Schutzhülle im Herzen Westeuropas und damit uns selbst gefährden ? Diese Illusion war unerschütterlich und in allen politischen Lagern mehr oder weniger verankert. Welche Partei stellte noch gleich die Verteidigungsminister der vergangenen 16 Jahre?
Das Putinsche Russland brachte nach einem mehrmonatigen Lügenmarathon am 24. Februar den Krieg zurück nach Europa, das Undenkbare ist Wirklichkeit geworden. Die deutsche Politik und mit ihr die gesamte Gesellschaft ist aufgewacht, reibt sich die Augen und scheint bereit, die Lasten zu schultern. Hoffentlich bleibt es dabei!