Wahl in Berlin : Hauptstadt der Stütze
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Hartz IV hatte das Thema Nummer eins im Berliner Wahlkampf sein müssen Bild: Robert Bochennek
Berlin ist „in“, zieht alle an - Touristen, Lebenskünstler und Kulturfreaks. Zugleich lebt an der Spree jeder fünfte Einwohner von Hartz IV. Vor allem Ausländer, die nicht gut Deutsch können, bleiben auf der Strecke.
Ein, zwei Bierchen in der Mittagssonne, vorm „Steckenpferd“, einer Eckkneipe in Neukölln. „Ick brauch' nich viel zum Leben, Dach überm Kopf und 'n paar Euro.“ Micha ist Ende vierzig, sein T-Shirt hat ein Loch unterm Ärmel, er war lange nicht beim Friseur. Seit drei Jahren bekommt er Hartz IV, und je länger er draußen ist, desto ferner erscheint ihm sein Berufsleben. Aufgewachsen im bürgerlichen Zehlendorf, von zu Hause „geflitzt“ und ohne Ausbildung durchgeschlagen, sieben Jahre in einem Plattenladen. Vormittags schaut er im Computer nach, „ob ein Job drin ist“. Und wartet auf die nächste Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Nachmittags hat er zu tun, trifft Leute oder geht in den Zoo, ins Museum, das ist günstig mit dem Berlin-Pass, den jeder Hartz-IV-Empfänger bekommt. So wird es die nächsten Jahre weitergehen. In Berlin lässt sich gut leben, auch auf bescheidenstem Niveau. Die Stadt ist auch deshalb ein Magnet. Für Touristen. Für Studenten. Für Lebenskünstler. Und vor allem für Arme.

Politischer Korrespondent in Berlin.
Die Statistik belegt: Berlin ist die Hartz-IV-Hauptstadt. Rund 600 000 Menschen leben hier von staatlichen Transferleistungen, 400 000 Erwachsene und 200 000 Kinder und Jugendliche. Das sind 21 Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahren. Anders gesagt: Jeder fünfte Berliner lebt von Hartz IV. Das ist mehr als in jeder anderen Stadt Deutschlands. Hamburg hat zwar nur halb so viele Einwohner, aber es erbringt die gleiche Wirtschaftsleistung. Hartz IV beziehen dort nur zehn Prozent. Selbst ostdeutsche Problemstädte wie Frankfurt an der Oder, Stralsund oder Halle bleiben weit hinter der Berliner Quote zurück, ebenso wie ihre westdeutschen Gegenstücke von Bremen über Gelsenkirchen bis Offenbach am Main. Wenn's um Stütze geht, ist Berlin Spitze.
Warum? Wegen der grau gewordenen Hausbesetzer, die einst gegen den Staat kämpften und nun von ihm ihre Grundversorgung kassieren, die sie am Wochenende als Flohmarkthändler aufbessern? Wegen der Künstler, die ein staatliches Grundeinkommen nutzen und sich ansonsten von Projekt zu Projekt zu hangeln? Vielleicht auch ein bisschen ihretwegen. Aber das Problem mit Hartz IV in Berlin sitzt tiefer. Es hat zu tun mit der Entindustrialisierung der Stadt, die ja nur dank ihrer Industrie einmal so groß geworden war. Das erste Mal floh die Industrie nach dem Mauerbau, das zweite Mal, als die Mauer fiel. Als nach 1990 die Berlin-Förderung gestrichen wurde, verschwanden in kurzer Zeit weit mehr als 100 000 Arbeitsplätze in der Industrie. Die Firmen, die sich dank der Subventionen in West-Berlin angesiedelt hatten, machten dicht. Die großen Konzerne aber, die in der goldenen Gründerzeit ihre Werke in der Stadt aufgebaut hatten, Siemens, Daimler, die kamen nicht zurück. Die Hälften der einstigen Frontstadt, über mehr als drei Jahrzehnte von beiden Systemen gepäppelt, mussten plötzlich allein laufen lernen. Ihre aufgeblähten Verwaltungsapparate wurden geschrumpft. Die hochfliegenden Zukunftspläne schrumpften mit. Nur die Menschen blieben in der Stadt. Doch das ist nur eine Erklärung.