Existenzkrise der SPD : Bitterer Machtkampf nach dem Wahlkampf
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Trügerisches Lächeln: Berlins Bürgermeister Müller und SPD-Fraktionsvorsitzender Saleh Bild: dpa
Wie schlecht steht es um die SPD in Berlin tatsächlich? Von Ratlosigkeit und Unruhe ist die Rede. Fraktionsvorsitzender Raed Saleh attestiert seiner Partei eine Existenzkrise – und trifft damit auch den Regierenden Bürgermeister.
Am Tag nach der Entscheidung, in der nächsten Woche mit der Linkspartei und den Grünen über die Bildung einer rot-rot-grünen Koalition in Berlin zu verhandeln, zeigte sich die Berliner SPD von einer altbekannten Seite, der innerparteilichen Zerrissenheit. Der Fraktionsvorsitzende Raed Saleh, gerade mit einem phantastischen Wahlergebnis im Amt bestätigt, veröffentlichte im Berliner „Tagesspiegel“ einen Aufsatz zum Thema: „Von der Volkspartei zur Staatspartei.
Wenn sich die SPD nicht radikal erneuert, wird sie mittelfristig nicht mehr gebraucht.“ In Berlin steht die SPD seiner Ansicht nach „vor der Herausforderung, sich inhaltlich und strukturell zu erneuern und dabei zugleich geschlossen und regierungsfähig zu bleiben“. Saleh versteht den Text, das sagte er dieser Zeitung, als Aufforderung zur Diskussion ohne jeden personalpolitischen Hintergedanken. Andere verstehen ihn als kaum kaschierte scharfe Kritik an Michael Müller. Müller ist Regierender Bürgermeister von Berlin, er ist Vorsitzender der SPD und war Spitzenkandidat seiner Partei im Wahlkampf. Am 18. September errang die SPD unter seiner Führung 21,6 Prozent der Stimmen. Das ist das schlechteste Ergebnis seit 1946.
Saleh setzt seine Kritik grundsätzlich an: „Ich habe noch lange nicht alle Antworten auf das Wahlergebnis, aber manches war in den letzten Monaten doch spürbar. Aus der Flüchtlingskrise des letzten Sommers ist ein Belastungstest für unsere Demokratie geworden – nicht, weil die Flüchtlinge uns wirklich überfordern würden, sondern weil in der Zeit der Re-Politisierung wieder die Bruchlinien unserer Gesellschaft zum Vorschein getreten sind. Es geht schon mindestens seit Anfang dieses Jahres nicht mehr um die Flüchtlinge, sondern um uns, darum, welches Land wir sein wollen – und welche Parteien dieses Land braucht.“ Ähnlich hatte sich am Montag der SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier geäußert. Auch er stritt ab, personelle Konsequenzen zu fordern, forderte aber einem „inhaltlichen Neuanfang“ in der SPD.
Verlust der Rergierungsfähigkeit
Wolfgang Thierse, der vor vier Jahren seine Partei SPD vor dem Verlust der Regierungsfähigkeit gewarnt hatte, als ohne Kritik am Kurs des damaligen Landesvorsitzenden Michael Müller der Gegenkandidat Jan Stöß den Vorsitz errang, sagte zu Salehs Vorwurf, die SPD sei keine Volkspartei mehr, „Klientelpolitik“ könne man der Berliner SPD weder programmatisch noch von der Mitgliederstruktur her vorwerfen. Sie sei im Gegenteil die Partei, die in Ost und West annähernd gleich stark sei. Saleh hatte sich nach dem Rückzug von Klaus Wowereit vom Amt des Regierenden Bürgermeisters – das Scheitern des Neubaus des Flughafens BER wurde vor allem Wowereit angelastet, der seit 2001 im Amt und zudem Aufsichtsratsvorsitzender war – gemeinsam mit Jan Stöß und Michael Müller um die Nachfolge beworben.
In aufwendigen Basis-Veranstaltungen bereiteten die drei Männer einen Mitgliederentscheid vor, den Müller mit fast sechzig Prozent Zustimmung für sich entschied. Stöß gelang es am 18. September nicht, seinen Wahlkreis direkt zu gewinnen; er zieht auch nicht über die Liste ins Abgeordnetenhaus ein. Müller hatte kurz vor seiner Aufstellung zum Spitzenkandidaten Stöß das Parteiamt wieder abgenommen, das dieser in einer Kampfkandidatur vor vier Jahren gewonnen hatte. Im Wahlkampf hatte Stöß stillgehalten; seither ist er öffentlich nicht mehr aufgetaucht. Auch Saleh hielt sich zurück, bis Dienstag.