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Wahl in Amerika : Noam Chomsky sieht tiefe Krise der Demokratie

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Noam Chomsky im Interview mit der dpa Bild: dpa

Noam Chomsky, einer der bedeutendsten Philosophen und Sprachwissenschaftler der Gegenwart, kritisiert viele Aspekte der amerikanischen Politik. Trump sei singulär, sagt er - und hofft auf eine Erneuerung der Demokratie.

          4 Min.

          Fest und lange erwidert Noam Chomsky, 87 Jahre alt, den Händedruck. „Hi!“ Verschmitztes Lächeln, freundliche Augen. Sein Zimmer hier im 8. Stock eines Gebäudes am MIT in Cambridge ist wie das Klischee eines Gelehrten: Bücherstapel, alte Plakate, Notizen. Chomsky, einer der wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart, geht hart ins Gericht mit dem amerikanischen Wahlkampf. Er wird nicht ein Mal in seinen Sätzen stocken, wenn er Ursachen einer gesellschaftlichen Malaise herleitet. Ein einziger, langer Fluss der Gedanken.

          Was hat Donald Trump möglich gemacht? Was sagt der Erfolg dieses Kandidaten aus über den Zustand der Vereinigten Staaten?

          Dieses sehr eigenartige Phänomen hat einen gewissen Hintergrund, eine Art Tradition, über die nicht allzu viel berichtet wird. Nehmen wir die Vorwahlen der letzten Jahre. Populäre Kandidaten der republikanischen Basis waren so gefährlich und so verrückt, dass das Establishment der Partei einschritt und sie eliminierte: Michelle Bachmann, Rick Santorum, Herman Cain. Alle außerhalb des normalen Spektrums, Denunzianten mit viel Geld. Dieses Mal hat es das Establishment einfach nicht geschafft.

          Woran liegt das?

          Sie konnten einfach nichts tun. Trump ist singulär. Es hat so etwas wie ihn in westlichen Industriestaaten noch nie gegeben.

          Die Vereinigten Staaten haben einige gravierende Probleme. Ungleichheit, Rassismus, gesellschaftliche Brüche, Identitätsfragen - warum denken so viele, dass Trump die richtige Antwort auf Fragen wie diese ist?

          Wir wissen recht genau, welche Haltungen und Sorgen die Trump-Unterstützer haben. Zunächst: Es sind nicht die Armen. Die meisten sind aus der weißen Arbeiterklasse, in der Periode des Neoliberalismus wurden sie beiseite geworfen. Genau genommen begann es mit Ronald Reagan.

          Und die Demokraten?

          Die Demokraten haben diese Gruppe schon in den siebziger Jahren verlassen, behaupten aber bis heute das Gegenteil. Sie dürfen ja in Amerika schon lange nicht mehr von einer Arbeiterklasse sprechen. Sie müssen „Mittelklasse“ sagen, das soll dann „Arbeiterklasse“ meinen. Wie auch immer - genau diese Klasse wurde ganz einfach sitzengelassen. Sehen Sie sich nur die Löhne an. Was heute niemand mehr wissen will: In den Zeiten unseres größten Wachstums folgten die Löhne dem Bruttosozialprodukt und der Produktivität. Das endete Mitte der siebziger Jahre. Ein ganzes Segment der Gesellschaft wurde vom politischen System stehengelassen und abgekoppelt. Jetzt sind diese Menschen verbittert und nachtragend.

          Sehen Sie weitere Gründe?

          Ein zweites Element, das Sie ja auch aus Europa ganz gut kennen, ist die Entwicklung des Populismus und Ultranationalismus. Es gibt eine unmittelbare Korrelation zwischen der Unterstützung autoritärer Populisten und den Trump-Begeisterten. Viele von ihnen fühlen sich bedroht, zum Beispiel vom Feminismus und anderem, von Entwicklungen, die die Ordnung gefährden, die diesen Menschen gegeben scheint. Entstanden ist ein äußerst gefährlicher Mix.

          Für wie bedrohlich halten Sie diesen Mix?

          Es handelt sich um eine tiefe Veränderung des politischen Systems. Die USA sind eigentlich ein Einparteienstaat mit zwei politischen Fraktionen, Republikanern und Demokraten. Aber: Genau genommen stimmt das so nicht mehr. Wir sind noch immer ein Einparteienstaat, der Partei des Business. Aber es gibt nur noch eine Fraktion, von der es ziemlich egal ist, wie wir sie nennen. Beide Parteien sind nach rechts gedriftet. Hillary Clinton wäre vor ein paar Jahrzehnten bei moderaten Republikanern gut zuhause gewesen.

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