F.A.Z.-Newsletter Amerika wählt : Eine Wahlschlacht mit Waffengewalt?
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„Ich bin das einzige, was zwischen dem American Dream und Anarchie, Wahnsinn sowie Chaos steht“, hat Trump vor dem Parteitag verkündet. Bild: AP
In Wisconsin wollten Milizen der Anarchie wehren, die Präsident Trump an die Wand malt. Zwei Personen wurden erschossen. Sind das Vorboten für den November, wenn über das Wahlergebnis gestritten wird?
Der Parteitag der Republikaner ist ein Überbietungswettbewerb: Wer findet die drastischsten Worte für die Gewalt und die Anarchie, die angeblich mit einem Präsidenten Joe Biden über Amerika kämen? Während Redner um Redner den Kandidaten der Demokraten als Marionette einer linksradikalen Verschwörung beschrieb, erlebte das Land in Wisconsin tatsächlich so etwas wie Anarchie. In Kenosha kommt es zu Ausschreitungen, seitdem dort am Sonntag ein weißer Polizist mehrmals auf einen Afroamerikaner schoss, der schwer verletzt überlebte. Nach ersten Protesten nahmen bewaffnete Milizionäre es auf sich, die Stadt vor jenen Anarchisten zu „beschützen“, die Präsident Donald Trump seit Monaten zur existentiellen Gefahr stilisiert. Am Dienstag schoss dann mutmaßlich ein weißer Siebzehnjähriger aus Illinois mit einem Sturmgewehr auf drei Personen, zwei von ihnen starben.
Dass in den Vereinigten Staaten parallel zwei oder mehr große Ereignisse unsere Aufmerksamkeit verlangen, daran haben wir uns in der Trump-Ära gewöhnt. Diesmal aber kann einem angst und bange werden, wenn man die beiden Stränge miteinander verknüpft: Sehen wir in Kenosha Vorboten des Spätherbstes? Ist es denkbar, dass die Wahlschlacht in eine gewaltsame Auseinandersetzung mündet? Wie werden Trumps oftmals bewaffnete Hardcore-Anhänger damit umgehen, wenn der Präsident im November eine etwaige Niederlage abstreiten sollte – oder wenn linke Aktivisten wie jene, die sich seit Wochen in Portland an der Westküste Straßenschlachten mit Sicherheitskräften liefern, einen Wahlsieg Trumps in Frage stellen sollten?
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Schon 2016 wurde diese Frage oft gestellt. Damals fand ich die Sorge übertrieben. In zahllosen Begegnungen mit Trump-Anhängern hatte ich den Eindruck gewonnen, dass sie sich kaum mit Gleichgesinnten vernetzen, also nicht wirklich kampagnenfähig wären. Während sich etwa die Fans des Linken Bernie Sanders auf dessen Kundgebungen fröhlich verbrüderten, warteten die Gefolgsleute des heutigen Präsidenten oft stundenlang stumm mit verschränkten Armen auf den Auftritt ihres Idols.
Doch 2020 ist nicht 2016. Trumps Sieg hat amerikanischen Rechtspopulisten und Extremisten Auftrieb gegeben. Schon der Aufmarsch verschiedener Neonazi-Gruppen 2017 in Charlottesville zeigte, dass Vernetzung keine Domäne der Linken mehr ist. Trumps infame Warnungen vor Wahlbetrug und Chaos gießen ebenso Wasser auf die Mühlen der rechten Systemfeinde wie seine offenen Sympathien für Verschwörungstheoretiker.
Ich bin gespannt, wie sehr Trump diese Warnungen noch zuspitzt, wenn er heute Nacht förmlich seine Nominierung akzeptiert. Vor vier Jahren war seine Parteitagsrede um diesen Satz herumgezimmert worden: „Niemand kennt das System besser als ich, und deshalb kann nur ich es reparieren.“ Seine eingefleischten Anhänger scheinen ihn nicht an diesem Reparaturversprechen zu messen. Ihnen genügt es, dass der Präsident in seinem Zerstörungswerk nicht nachlässt. Noch überwiegt mein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Demokratie – aber Entwarnung würde ich nicht geben.
Und was sagen die Umfragen? Das Portal RealClearPolitics, das die meisten Umfragen aggregiert, spricht Biden derzeit 212 und Trump 115 Stimmen im entscheidenden „electoral college“ zu. Die relevante Zahl aber ist die dritte: 211 Wahlleute kommen aus Bundesstaaten, in denen die Umfragen ein sehr knappes Ergebnis vorhersagen. Dass dazu einstmals konservative Bastionen wie Texas, Georgia und Arizona zählen, darf Biden freuen – ein Sieg des Demokraten in einem dieser Staaten käme einer Sensation gleich.
Doch weder in Florida noch in den drei Rostgürtel-Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin, wo sich Hillary Clinton verkalkuliert hatte, kann Biden fest mit einer demokratischen Rückeroberung rechnen.
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