Hat Trump doch recht? Baltimore hat viele Problemviertel. Bild: AFP
309 Morde wurden voriges Jahr in der Stadt verübt – mehr als im 14 Mal so großen New York. Der Bürgermeister will sich von Trump nicht daran erinnern lassen.
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Vielleicht hätte Donald Trump die Sache mit Baltimore und den Ratten zum Beginn der neuen Woche auf sich beruhen lassen, wäre nicht Al Sharpton auf den Plan getreten. Der schwarze Bürgerrechtler, Pastor und Fernseh-Talker aus New York hatte sich für Montag in Baltimore angekündigt. Zusammen mit dem früheren Republikaner-Geschäftsführer Michael Steele, einem Afroamerikaner und nimmermüden Trump-Kritiker, wollte Sharpton zu „Trumps Äußerungen und der überparteilichen Empörung in der schwarzen Gemeinde“ Stellung nehmen.
Gemeint waren die Tweets, mit denen der amerikanische Präsident am Samstag den demokratischen Abgeordneten Elijah Cummings angegriffen hatte, einen seiner gewichtigsten Kritiker im Kongress. Cummings’ Heimatstadt Baltimore erklärte Trump zu einem „gefährlichen und dreckigen Ort“, zu einer „ekelhaften“ und „rattenverseuchten“ Stadt, in der „kein Mensch leben“ wolle. Am Montag legte der Präsident nach. Er nannte Sharpton einen „Hochstapler“, der „Weiße und Polizisten hasst“. Und weil „König Elijah und seine Crew“ in Baltimore gescheitert seien, habe die Stadt die übelste Kriminalitätsstatistik der Nation. Dass ein Politiker, der einen Teil einer Großstadt und ihres Umlands im Kongress vertritt, wenig bis nichts mit der dortigen Verbrechens- oder Schädlingsbekämpfung zu tun hat, scherte den Präsidenten nicht.
Seit dem Wochenende arbeiten sich dessen Unterstützer an den Rassismus-Vorwürfen ab, die seit den Tweets gegen Cummings auf Trump einprasseln. Wer die Wahrheit ausspreche, so die Verteidigung, werde heutzutage zum Rassisten gestempelt. Schließlich ist nichts leichter aufzutreiben als Beweisbilder von verwahrlosten Straßen und zugemüllten Hintergärten in Baltimore, Ratten inklusive. Trump verbreitete am Montag ein altes Zitat von Bernie Sanders. 2015 hatte der demokratische Sozialist die Stadt besucht und bekundet, dass sie ihn stellenweise an die „Dritte Welt“ erinnere. Er wolle doch annehmen, ätzte Trump, dass jetzt auch Sanders als Rassist etikettiert werde.
Die Ratten machen Baltimore schon lange zu schaffen – genauso wie vielen anderen Großstädten des Landes. Nicht zuletzt in Trumps Heimatstadt New York oder auch an seinem gegenwärtigen Wohnort Washington verderben die Tiere vielen Bürgern die Freude am innerstädtischen Leben. Spezifischer für Baltimore ist eine Plage anderer Art: Seit Jahrzehnten schafft es die Stadt trotz groß angekündigter Offensiven nicht, die Zahl der leerstehenden Häuser zu reduzieren. Schmale, verfallende Reihenhäuser, deren Fenster eingeschlagen und deren Türen mit Brettern vernagelt sind, prägen das Straßenbild in mehreren Vierteln. Sie dienen Dealern als Drogenverstecke, Kindern als gefährliche Spielplätze und Obdachlosen als Schlafstätten. Von Ratten zu schweigen.
In den fünfziger bis siebziger Jahren hatte die Stadt mehr als 900.000 Einwohner gezählt. Der in ganz Amerika starke Drang in die Vororte, aber auch die fortschreitende Automatisierung des Containerhafens ließ die Stadtbevölkerung schrumpfen. Heute leben noch gut 600.000 Menschen in Baltimore – aber beinah drei Millionen im Großraum. Die Vororte wiederum gehen in den Speckgürtel rund um Washington über.
Bürgermeister Jack Young, auch er ein afroamerikanischer Demokrat, hielt Trump schon am Samstag entgegen, Baltimore sei eine „pulsierende Stadt“, die sich von niemandem beleidigen lasse, „auch nicht vom angeblichen Führer der freien Welt“. Die stolze Zeitung „Baltimore Sun“ erinnerte in einem Leitartikel an den aufgemotzten Yachthafen, auf dessen Promenade am Wochenende auch viele Familien aus der Hauptstadt flanieren, wenn sie das National Aquarium besichtigt haben. Die Zeitung verwies außerdem auf das Fort McHenry, wo 1812 eine der bedeutendsten Schlachten gegen die Briten gewonnen wurde, auf die private Johns-Hopkins-Universität und die blühende biomedizinische Industrie um sie herum sowie auf die in Baltimore angesiedelte Zentralverwaltung der staatlichen Rentenversicherung. Schon weil die Stadt auf dem sogenannten Acela-Korridor liegt, also an der Schnellbahnstrecke von Boston über New York und Philadelphia nach Washington, hat auch sie vom neuen Drang vor allem jüngerer Amerikaner zurück in die Innenstädte profitiert.
Doch einige arme, fast nur von Afroamerikanern bewohnte Stadtteile haben an diesem Aufschwung keinen Anteil. Wer die Kultserie „The Wire“ über das trostlose Rauschgiftmilieu von Baltimore anschaut, erhält ein bis heute realistisches Bild des Alltags. Als 2015 nach dem Tod des Schwarzen Freddie Gray in Polizeigewahrsam Proteste in schwere Randale mündeten, wurde im Westen der Stadt ein ausgebrannter Drogeriemarkt zum tragischen Symbol: Die Brandstifter hatten das einzige größere Geschäft weit und breit zerstört. Supermärkte oder Apotheken sahen sich in ihrem Unwillen bestätigt, Filialen in den armen Stadtvierteln aufzumachen. Obst und Gemüse zu kaufen, ist mancherorts in einem Drei-Meilen-Radius unmöglich. An Jugendzentren und ähnlichen Einrichtungen mangelt es. Halt suchen viele Kinder in Gangs.
Voriges Jahr wurden 309 Morde in Baltimore begangen – mehr als in New York mit seiner fast 14 mal so großen Bevölkerung. Das FBI führte Baltimore 2017 hinter Detroit und Saint Louis auf Rang drei der gefährlichsten Städte Amerikas. Dabei schien die Polizei vor einigen Jahren auf einem guten Weg gewesen zu sein, der Gewalt Herr zu werden. Beileibe nicht nur Trump-Anhänger argwöhnen, dass die neue Gewaltexplosion eine Folge der Vereinbarung sei, die das Bundesjustizministerium zum Ende von Barack Obamas Präsidentschaft mit der Stadt Baltimore getroffen hatte. Seitdem, so heißt es, traue sich die Polizei nicht mehr, in der nötigen Härte durchzugreifen.