
Vollkommene Leidenschaft
- -Aktualisiert am
Der Literaturnobelpreis für die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ehrt eine gesellschafts- und identitätspolitische Autorin, deren Romane vorbildlich formbewusst sind.
Was war im Vorfeld spekuliert worden über die Fähigkeit der Literaturnobelpreisjury, angesichts der bedrückenden Ereignisse in diesem Jahr eine politische Wahl zu treffen! Für einen ukrainischen Autor beispielsweise oder für Salman Rushdie. Mit Annie Ernaux hat die Schwedische Akademie nun eine eminent politische Entscheidung getroffen, allerdings eine gesellschafts- und identitätspolitische. Die zweiundachtzigjährige Französin steht wie kaum eine andere Schriftstellerin für ein emanzipatives Erzählen, das auf der Grundlage eigener Erlebnisse formuliert und dabei formbewusst bis ins Letzte ist. Ihr mächtigstes Mittel dabei ist die Präzision.
Präzise zu schreiben heißt für Annie Ernaux, knapp zu schreiben, nicht um das herumzureden, was ihr eigentlicher Gegenstand ist. So hat „Le jeune homme“, als jüngstes Buch der neuen Nobelpreisträgerin kürzlich in Frankreich erschienen, gerade einmal 24 Seiten Erzähltext, aber die haben es in sich. Die Intensität der Ernaux’schen Prosa, hier am Gegenstand der Liebe einer Frau zu einem halb so alten Mann vorgeführt, resultiert aus einer radikal subjektiven Sicht, die die Grenzen zwischen Fiktion und Autobiographie gar nicht erst verwischt, sondern verneint. Das war bei Ernaux so seit ihrem Debütroman „Les armoires vides“ von 1974, der seinen Stoff aus den Erfahrungen als Tochter eines kleinbürgerlichen Einzelhändlerehepaars gewann, die durch ein Literaturstudium pro forma sozial aufsteigt und doch de facto von den Kommilitonen immer noch bevorurteilt wird. Wie viele von Ernaux’ Büchern ist dieses noch gar nicht ins Deutsche übersetzt. Erst mit „Die Jahre“ begann 2017 hierzulande eine begeisterte Rezeption – im Zuge des Interesses an sozial engagierter französischer Autofiktion à la Didier Eribon oder Édouard Louis, die ohne Ernaux’ Pionierarbeit aber undenkbar gewesen wäre.
Zugang zu allen exklusiven F+Artikeln
2,95 € / Woche
- Alle wichtigen Hintergründe zu den aktuellen Entwicklungen
- Mehr als 1.000 F+Artikel mtl.
- Mit einem Klick online kündbar
Login für Digital-Abonnenten
Sie haben Zugriff mit Ihrem F+ oder F.A.Z. Digital-Abo