https://www.faz.net/aktuell/politik/vollkommene-leidenschaft-annie-ernaux-erhaelt-den-literaturnobelpreis-18368285.html

Nobelpreis für Annie Ernaux : Vollkommene Leidenschaft

Der Literaturnobelpreis für die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ehrt eine gesellschafts- und identitätspolitische Autorin, deren Romane vorbildlich formbewusst sind.

          1 Min.

          Was war im Vorfeld spekuliert worden über die Fähigkeit der Literaturnobelpreisjury, angesichts der bedrückenden Ereignisse in diesem Jahr eine politische Wahl zu treffen! Für einen ukrainischen Autor beispielsweise oder für Salman Rushdie. Mit Annie Ernaux hat die Schwedische Akademie nun eine eminent politische Entscheidung ge­troffen, allerdings eine gesellschafts- und identitätspolitische. Die zweiundachtzigjährige Französin steht wie kaum eine andere Schriftstellerin für ein emanzipatives Erzählen, das auf der Grund­lage eigener Erlebnisse formuliert und dabei formbewusst bis ins Letzte ist. Ihr mächtigstes Mittel dabei ist die Präzision.

          Präzise zu schreiben heißt für Annie Ernaux, knapp zu schreiben, nicht um das herumzureden, was ihr eigentlicher Gegenstand ist. So hat „Le jeune ­homme“, als jüngstes Buch der neuen Nobelpreisträgerin kürzlich in Frankreich erschienen, gerade einmal 24 Seiten Erzähltext, aber die haben es in sich. Die Intensität der Ernaux’schen Prosa, hier am Gegenstand der Liebe einer Frau zu einem halb so alten Mann vorgeführt, resultiert aus einer radikal subjektiven Sicht, die die Grenzen zwischen Fiktion und Autobiographie gar nicht erst verwischt, sondern verneint. Das war bei Ernaux so seit ihrem Debütroman „Les ar­moires vides“ von 1974, der seinen Stoff aus den Erfahrungen als Tochter eines kleinbürgerlichen Einzelhändlerehepaars gewann, die durch ein Literaturstudium pro forma sozial aufsteigt und doch de facto von den Kommilitonen immer noch bevorurteilt wird. Wie viele von Ernaux’ Büchern ist dieses noch gar nicht ins Deutsche übersetzt. Erst mit „Die Jahre“ begann 2017 hierzulande eine begeisterte Rezeption – im Zuge des Inter­esses an sozial engagierter französischer Autofiktion à la Didier Eri­bon oder Édouard Louis, die ohne Er­naux’ Pionierarbeit aber un­denkbar gewesen wäre.

          Testen Sie unser Angebot.
          Jetzt weiterlesen.
          Testen Sie unsere Angebote.
          F.A.Z. PLUS:

            FAZ.NET komplett

          Diese und viele weitere Artikel lesen Sie mit F+
          Gespräch an einem kleinen Tisch: Xi und Putin am Montag im Kreml

          Xi bei Putin : Ein Tête-à-Tête ungleicher Partner

          Der chinesische Staatschef Xi Jinping ist bei Wladimir Putin in Moskau eingetroffen. Gegenüber dem Gast aus Peking tritt Russlands Präsident ungewohnt devot auf.
          Am Zürcher Paradeplatz trennte die bisherigen Konkurrenten nur ein Straßenzug.

          UBS kauft Credit Suisse : Das zweitgrößte Übel

          Die Auffanglösung für die Credit Suisse hat schwere Mängel. Das Eigentumsrecht wird geschwächt – und das Wettbewerbsrecht ausgehebelt.