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Volksaufstand : Die Intellektuellen und der 17. Juni

  • -Aktualisiert am

Bild: dpa

Wie der Volksaufstand in der DDR zum „faschistischen Putschversuch" umgedeutet wurde - und welche Rolle die Intellektuellen dabei spielten.

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          Die Idee wurde im Politbüro geboren: Nachdem am 16. Juni 1953 Tausende Ost-Berliner zum Sitz der DDR-Regierung gezogen waren und die Rücknahme der Normenerhöhung verlangt hatten, behauptete das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" am Tag darauf, "faschistische Provokateure" aus dem Westteil der Stadt hätten sie zu den Protesten angestiftet.

          Einen Tag später - inzwischen waren in der DDR Hunderttausende auf die Straße gegangen - war in der Zeitung zu lesen, die "faschistischen Agenturen" im Westen hätten "Hunderte und Tausende von Provokateuren" in die DDR entsandt, "um die Arbeit der Regierung um jeden Preis zu stören". Kurz darauf verlautbarte das Zentralkomitee, amerikanische und deutsche "Kriegstreiber", die möglichst rasch einen dritten Weltkrieg entfesseln wollten, seien für die "faschistische Provokation" am 17. Juni verantwortlich: "So sollte in der Deutschen Demokratischen Republik eine faschistische Macht errichtet und Deutschland der Weg zu Einheit und Frieden verlegt werden."

          Intellektuelle im Dienst der Partei

          Die schrille Propaganda klang jedoch wenig überzeugend. Viele Arbeiter waren selbst dabeigewesen, als die beliebtesten Kollegen zu Streikleitern gewählt worden waren. Also mobilisierte die SED ihre Dichter und Denker, um die Propaganda glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Anders als drei Jahre später in Ungarn, wo die Schriftsteller den Aufstand guthießen und auch nach seiner Niederschlagung nicht ihm abschwören wollten, gaben sich die meisten prominenten Intellektuellen in der DDR bereitwillig für diesen Dienst an der Partei her. Wenn den Aufständischen später vorgehalten wurde, sie hätten keine Wortführer hervorgebracht, dann hatte das nicht zuletzt in dem Verhalten der Intellektuellen seine Ursache.

          Bertolt Brecht wurde damals im "Neuen Deutschland" mit einem Brief an Walter Ulbricht zitiert, in dem er schrieb: "Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszusprechen." Paul Dessau äußerte, die Sowjetarmee habe durch ihr "entschlossenes Durchgreifen gegen die faschistischen Brandstifter in Berlin die Freiheit für das deutsche Volk gesichert". Der Bildhauer Fritz Cremer begrüßte es, daß die sowjetische Armee "gegen die faschistischen Rowdys jetzt mit unerbittlicher Strenge vorgeht und Todesurteile gegen sie fällt. Das ist die einzige Sprache, die diese Banditen verstehen."

          Faschismus-Vorwurf ausgeschmückt

          Vor allem die Schriftsteller schmückten den Faschismus-Vorwurf weiter aus. Friedrich Wolf erinnerten die Aufständischen an die "Nazibrandstifter", die "mit dem Reichstagsbrand und der Verbrennung der fortschrittlichen Bücher vor der Universität einen Zündstoff schufen für den zweiten Weltbrand mit den Bombennächten über Berlin und Coventry, London und Warschau". Stefan Heym klagte über die "Ausschreitungen des Mobs von faschistischen Stoßtrupplern in Ringelsöckchen und Cowboyhemden". Erich Loest warf den Arbeitern vor, zugesehen zu haben, "wie der Faschismus versuchte, die Straßen von Berlin in seine Gewalt zu bekommen". Für den "schamlosen Terror in Berlins Straßen" machte Loest "heruntergekommene Jugendliche, Strolche, Bubis mit chromblitzenden Rädern, Mädchen, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte", verantwortlich.

          Bei den meisten Einlassungen handelte es sich nicht um die üblichen Ergebenheitsadressen, zu denen Künstler in Diktaturen oft gezwungen werden. Die Schriftsteller glaubten vielmehr der staatlichen Propaganda. Daß sich die Arbeiter gegen die angebliche Arbeiterregierung auflehnten, hatte sie tief erschreckt. Ihr Weltbild war bedroht, hatten sie sich doch selbst die Rolle des fortschrittlichen Künstlers an der Seite der Partei zugedacht. Der Rückgriff auf die Zeit des Nationalsozialismus half ihnen zu akzeptieren, daß das Volk manchmal auch mit Gewalt auf den rechten Weg gebracht werden müsse.

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