Türkei und Syrien : Neuinterpretation alter Partnerschaft
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Alte Verbündete: der türkische Ministerpräsident Erdogan und der syrische Präsident Assad (v.r.) Bild: dapd
Die Türkei sucht in der Syrien-Krise nach Wegen, um ein drohendes Eingreifen im Nachbarland zu rechtfertigen. Dazu werden jetzt auch alte Abkommen mit Assad herangezogen. Die Drohungen von Ministerpräsident Erdogan werden unmissverständlich lauter.
Auf die Grenzverletzungen durch Syrien werde sein Land „im Rahmen des Völkerrechts“ antworten, gab der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dem Regime in Damaskus am Dienstag vom fernen China aus zu verstehen. Bemerkenswert ist diese Äußerung im Zusammenhang mit Berichten darüber, dass bestimmte Klauseln türkisch-syrischer Abkommen eine Intervention der Türkei in Syrien völkerrechtlich absichern könnten - zumindest nach Ankaraner Lesart. In Analysen türkischer Medien, die sich in der Regel auf nicht namentlich genannte türkische Diplomaten oder (angebliche) Geheimdienstberichte stützen, wird unter anderem die Vereinbarung von Adana aus dem Jahr 1998 als Beispiel genannt.
Im Herbst 1998 standen die Türkei und Syrien schon einmal kurz vor einem Krieg. Syrien hatte die kurdische Terrororganisation PKK unterstützt und ihrem Führer Abdullah Öcalan mehr als nur Zuflucht geboten. Der damalige Generalstabschef der türkischen Streitkräfte, Kivrikoglu, sprach von einem „unerklärten Krieg“ Syriens gegen die Türkei. Die türkische Militärführung drohte mit einer Intervention. So glaubhaft war diese Drohung, dass schließlich im türkischen Adana - übrigens unter Vermittlung Ägyptens und Irans - Verhandlungen stattfanden, als deren Ergebnis Syrien sich verpflichtete, der PKK keinerlei Unterstützung mehr zukommen zu lassen.
Im Nachbarland herrscht Chaos
Nun will Ankara sich dem Vernehmen nach unter anderem auf den ersten Artikel der Vereinbarung von Adana berufen. Demnach ist Syrien nämlich verpflichtet, auf seinem Territorium keinerlei Taten zuzulassen, welche die Sicherheit und Stabilität der Türkei gefährden könnten. Damals waren zwar PKK-Aktivitäten gemeint, nicht der unabsehbare Kampf zwischen regimetreuen Truppen und der Opposition in Syrien. Da die Türkei inzwischen aber 25.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat und im Nachbarland Chaos herrscht, erfülle Assads Regime den ersten Artikel des Abkommens von Adana nicht länger, sagen türkische Diplomaten. Im zweiten Artikel der Vereinbarung von Adana erkannte Syrien die PKK als terroristische Organisation an und verpflichtete sich, deren Tätigkeit auf syrischem Territorium, einschließlich aller mit der Organisation verbundenen Gruppierungen, zu unterbinden. Auch diese Verpflichtung erfüllt Damaskus nicht mehr, folgt man der Ankaraner Darstellung, dass Syrien die PKK wieder systematisch mit Waffen versorge. Mehrere weitere Artikel der Vereinbarung von Adana, die sich ebenfalls auf die Rolle der PKK in Syrien beziehen, lassen sich ähnlich interpretieren.
Die regierungsfreundliche türkische Zeitung „Zaman“ will durch ihr zugänglich gemachte „geheimdienstliche Schätzungen“ erfahren haben, dass Syrien die PKK im Norden des Landes wieder frei walten lasse. Angeblich sollen syrische Geheimdienste sogar moderate kurdische Politiker in Syrien ermordet haben, um der PKK freie Bahn zu verschaffen. Solche Aussagen sind zwar mit großer Zurückhaltung zu werten, doch zeigen sie zumindest, wie in Ankara daran gearbeitet wird, eine Intervention, sollte sie sich als unvermeidbar herausstellen, im Inland und international zu begründen.
Notfalls mit Waffengewalt durchsetzen
Noch deutlicher wird das, wenn von einem Abkommen die Rede ist, das im Dezember 2010 geschlossen wurde. Seinerzeit, als der syrische Präsident Assad noch Partner der Regierung Erdogan war, vereinbarten Ankara und Damaskus eine enge Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus. In Ankara weist man nun besonders auf Artikel sieben jener Vereinbarung hin, in dem die Unterzeichnerstaaten die Möglichkeit gemeinsamer Operationen auf dem Territorium des jeweils anderen Staates vereinbarten. Wenn die Staatengemeinschaft (oder zumindest die Türkei) die syrische Opposition als einzige rechtmäßige Regierung Syriens anerkennt, könnte Ankara mit deren Billigung, also im Rahmen des Abkommens von 2010 und damit des Völkerrechts, im Nachbarland militärisch tätig werden.
So könne die Türkei eine entmilitarisierte Pufferzone oder einen humanitären Korridor notfalls mit Waffengewalt durchsetzen, ohne das Völkerrecht zu verletzen, lautet eine halboffizielle Interpretation in Ankara. Der Berufung auf Artikel fünf des Nato-Vertrags, nach dem ein Angriff auf einen Mitgliedstaat als Angriff auf alle Mitgliedstaaten zu werten sei, gesteht man hingegen offenbar keine großen Erfolgsaussichten zu. Der Tatbestand eines syrischen Angriffs auf die Türkei lasse sich nicht in die derzeitige Situation hineininterpretieren.