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Ungarn : Ein unausgesprochener Kulturkampf

  • -Aktualisiert am

Starker Kritik ausgesetzt: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán Bild: AFP

Seitdem Ungarn die EU-Präsidentschaft übernommen hat, läuft das rot-grün-gelbe Spektrum in Westeuropa Sturm gegen die Regierung Orbán. Die Machtprobe um die Werte wird letztlich durch Ungarns wirtschaftlichen Erfolg entschieden.

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          Seit mehr als vier Monaten führt Ungarn den Vorsitz in der EU. Seit mehr als vier Monaten sucht die ungarische Regierung diese besondere Reifeprüfung für jedes neues Mitgliedsland mit Glanz zu bestehen. Seit mehr als vier Monaten lässt ein breites Kritikerbündnis kein gutes Haar am Ministerpräsidenten und Fidesz-Vorsitzenden Orbán. Liegt der Grund dafür in der Misstrauen erregenden Zweidrittelmehrheit des Regierungsbündnisses im Parlament? Weckt der Eifer, mit dem diese Mehrheit das Medienrecht neu gefasst und eine neue Verfassung formuliert hat, Zweifel? Ruft das Regierungsprogramm mit dem Anspruch, eine wirkliche geistig-moralische Wende herbeizuführen, die Widerstände im In- und Ausland hervor? Oder gilt die Ablehnung in erster Linie der Person Orbán, gleich was der über zwei Jahrzehnte dominante und jetzt erst 47 Jahre alte ungarische Politiker im Einzelnen macht?

          Die stärkste Kritik an der vor einem Jahr gewählten zweiten Regierung Orbán kommt von Liberalen und Linken. Vielleicht haben die Wortführer den Verlust der geistesverwandten Regierungsmacht noch nicht verkraftet. Eine Wiederwahl der Sozialisten und der Liberalen in die Regierung kam aber für die Mehrheit der Wähler nicht in Frage. Schreibt doch ein so unangreifbarer Analytiker wie der österreichische Publizist Paul Lendvai: „In den Jahren zwischen 2002 und 2010 bot das sozialistisch-liberale Lager ein jämmerliches, ja zuweilen ekelerregendes Bild von Filz, Vetternwirtschaft und politischer Verkommenheit.“ Ebenso verbot es sich vernünftigerweise, die rechtsradikale Partei Jobbik zu wählen. Also entschied sich die überwältigende Mehrheit für Orbáns Parteienbündnis, das Teil der Europäischen Volkspartei ist. Seither läuft das rot-grün-gelbe Spektrum in Westeuropa mit dem Kulminationspunkt Europäisches Parlament Sturm gegen Orbán.

          Das Kräftemessen von Weltanschauungen

          Das wäre auch so gewesen, wenn Ungarn nicht schon bald nach dem Regierungswechsel auch die EU-Präsidentschaft übernommen hätte. Damit wurde auch die anfänglich innerungarische Kritik europäisiert. Dabei gerieten die EU-Initiativen des Vorsitzlandes in den Hintergrund. Nicht einmal der ungarische Vorstoß zur Verbesserung der Rechtsstellung der Roma in Europa, den Menschenrechtler eigentlich feiern müssten, erfährt gebührende Aufmerksamkeit.

          Solche Vehemenz erklärt sich nicht aus der üblichen Lust an Kritik, sondern aus dem Willen zu einem Kräftemessen von Weltanschauungen. Der Schriftsteller Dalos nennt Orbán „nationalpatriotisch“ und sieht darin die Ursache dafür, dass es „um Ungarns Prestige im Ausland schlecht bestellt“ sei. Orbán würde - wie wohl jeder europäische Regierungschef - eine solche Kennzeichnung seiner Haltung gelten lassen. Solange die EU eine Gemeinschaft von Einzelstaaten mit jeweils eigener Sprache, Nationalhymne und Staatsangehörigkeit sowie eigenem Staatsoberhaupt ist, kann neben obligatem Europapatriotismus der Nationalpatriotismus kein Fehler sein. Die Schuld an der Beschädigung des Ansehens seines Landes sieht Orbán hingegen bei den Kritikern, so wie er es im Europäischen Parlament getan hat, als er von dem Grünen Cohn-Bendit angegriffen wurde.

          Ungarn verfassungsrechtlich zu einem gottlosen Staat erklären

          Um was es im Kern geht, zeigt nicht der Streit über das Mediengesetz, sondern der über die Präambel der neuen Verfassung. Das erste Reizthema: die Anrufung Gottes, er möge die Ungarn segnen. Dies entspricht der ersten Zeile der nicht aggressiven, sondern eher selbstmitleidigen und bis dahin noch nie infrage gestellten Nationalhymne. Das zweite Reizthema: die Hervorhebung der Familie als förderungswürdige Lebensform; schließlich das dritte: das zweifache Verständnis von einer Staatsnation in den bestehenden Grenzen und einer Kulturnation, die vom Gebrauch der ungarischen Muttersprache bedingt ist.

          Die Kritik zielt darauf, mit der demonstrativen Tilgung des Gottesbezuges Ungarn verfassungsrechtlich zu einem im Wortsinne gottlosen Staat zu erklären. Auch sollen die Unterschiede zwischen der reproduktionsfähigen Lebensform von Mann und Frau (Ungarn hat eine der geringsten Geburtenraten in der EU) und den homosexuellen Gemeinschaften eingeebnet werden. Somit wird die Auseinandersetzung, die vor Jahren um den Gottesbezug im europäischen Verfassungsentwurf geführt worden war, am Beispiel Ungarn wiederbelebt und verschärft.

          Wirtschaftlicher Erfolg bestimmt die moralische Akzeptanz einer Regierung nicht

          Orbán will in diesem unausgesprochenen europäischen Kulturkampf Stellung beziehen. Seine Wählerschaft legitimiert ihn dazu. Er stellt die Sonntagsreden von Europa als Wertegemeinschaft auf die Probe. Dabei lässt er ein „Everything goes“ nicht als Maxime gelten, sondern setzt auf einen Nicht-68er-Wertekanon, dem das abendländische Erbe ebenso zugrundeliegt wie die Menschenrechtskonventionen von 1948 und 1950.

          Merkwürdiger-, aber realistischerweise wird diese Kraftprobe letztlich dadurch entschieden, ob es Orbán gelingt, Ungarn wirtschaftlich und finanziell zu stabilisieren. Heute bestimmt nun einmal nicht zuletzt der wirtschaftliche Erfolg die moralische Akzeptanz einer Regierung. Orbáns Salonfähigkeit in der EU wie in der übrigen Welt wird daher mehr von der Wirksamkeit der neuen verfassungsrechtlichen Schuldenbremse als von der Kraft der Präambel abhängen.

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