TV-Kritik „Anne Will“ : Sage noch einer, über Corona könne man nicht streiten
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Die Runde bei Anne Will Bild: NDR/Wolfgang Borrs
Nach der ersten Woche gelockerter Corona-Maßnahmen entbrennt bei Anne Will eine leidenschaftliche Diskussion, in der so mancher Gast keine glückliche Figur abgibt.
Der politische Streit ist zurück in Corona-Deutschland. Grund sind jedoch nicht die Ausbreitung des Virus, sondern vielmehr die gelockerten Maßnahmen im Kampf gegen die Infektion: Den einen geht die Öffnung zu weit, die anderen fordern rasch weitere Lockerungen. Anne Will widmet sich an diesem Abend genau dieser Auseinandersetzung und fragt: Sorge vor zweiter Infektionswelle – lockert Deutschland die Corona-Maßnahmen zu forsch?
Auch im Studio ist jene Konfliktlinie klar zu erkennen: Auf der einen Seite stehen Armin Laschet (CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen) und Christian Lindner (FDP-Parteivorsitzender), sie fordern rasch weitere Öffnungen. Auf der anderen Seite finden sich Karl Lauterbach (SPD-Politiker und Epidemiologe) sowie Annalena Baerbock (Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen). Als eine Art „Schiedsrichterin“ soll laut Anne Will die aus München zugeschaltete Christina Berndt fungieren, ihrerseits Wissenschaftsredakteurin der Süddeutschen Zeitung.
Laschet gegen Lauterbach
Den Auftakt macht Armin Laschet, schließlich scheint er derzeit um den Titel des Lockerungsmeisters zu buhlen. Keiner wirbt derart vehement für ein zügiges Ende der Corona-Maßnahmen wie der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Zu Beginn der Sendung wirbt er für einen veränderten Fokus: weg von den Intensivstationen, weg von den Corona-Infizierten und Toten, hin zu den Kindern, die nun schon wochenlang zu Hause bleiben müssten, und zu den Menschen, die sich nicht mehr in die Notfallambulanz wagen würden. Da er gleichzeitig von freien Plätzen auf den Intensivstationen höre, müsse man diese Situationen gegeneinander abwägen, fordert Laschet.
Karl Lauterbach will in die andere Richtung. Die beschlossenen Lockerungen seien zu weitreichend und kämen ohnehin zu früh, meint der Epidemiologe. Würde man hingegen den anfänglichen Lockdown noch zwei bis drei Wochen aufrechterhalten, könnte Deutschland zum europäischen Südkorea werden. Sprich: Man könnte die Neuinfektionen derart reduzieren, dass die Infektionsketten nachvollziehbar würden. Dann, so Lauterbach, hätte man die Corona-Krise tatsächlich in den Griff bekommen. Hätte, wäre, könnte. Doch der SPD-Politiker findet schnell zurück in die Realität der Lockerungen und knüpft sich dort Laschets Hinweis auf freie Intensivbetten vor: Rund 60 Prozent der beatmeten Covid-19-Patienten würden trotz intensiver Behandlung sterben. Die Idee, Intensivbetten reichten im Kampf gegen Corona aus, greife deshalb zu kurz. Vielmehr könne man das Virus nur besiegen, in dem man Infektionen verhindere.
Auf die Nachfrage von Anne Will, welche Öffnung zu forsch sei, verweist Lauterbach auf die Schulen, die auf die Lockerungen überhaupt nicht vorbereitet gewesen seien. Armin Laschet widerspricht sofort, aus seiner Sicht sei an den Schulen alles super gelaufen. Doch Lauterbach zufolge könne man dies derzeit noch gar nicht beurteilen, mögliche Corona-Neuinfektionen träten schließlich erst in zwei Wochen zu Tage.
Christian Lindner sieht das Land im Vergleich zum Pandemie-Beginn in einer anderen Verfassung: Das Gesundheitssystem sei gestärkt, das Wissen über das Virus gesteigert, und die Bevölkerung im Umgang mit der Gefahr gewissenhafter. Diesem ersten Dreisprung folgt sogleich der nächste: Erstens sollte für eine Lockerung nicht die Sparte, sondern das jeweilige Hygienekonzept entscheidend sein. Egal ob Hotel oder Restaurant, ob eine Verkaufsfläche von größer oder kleiner 800m2 – wer die Hygieneregeln einhalten könne, sollte öffnen dürfen. Zweitens müsse man regional vorgehen, denn ein Hotel in Leverkusen dürfe nicht unter Neuinfektionen in Passau leiden. Und Drittens sei die Doktrin falsch, dass man nur dann vorwärtsgehen dürfe, wenn ein Rückschritt vollkommen ausgeschlossen sei.
Nach dem FDP-Vorsitzenden ist es an der Kollegin von den Grünen, ihre Punkte vorzutragen. Und der Kontrast zum strukturierten Lindner könnte kaum größer sein. Man dürfe nur schrittweise vorgehen und müsse jede Maßnahme immer überprüfen. Man stehe erst am Anfang und sorge durch die derzeitige Diskussion bei den Bürgern lediglich für Verunsicherung. Nach diesen inhaltslosen Phrasen fordert Annalena Baerbock, klare Kriterien zu benennen und zugleich die sozialen Härten zu berücksichtigen.
Ja, und nun? Alles richtig, ist man geneigt zu sagen. Aber was will Frau Baerbock damit sagen? So präzise Lindner seine Punkte benennt, so diffus äußert sich die Grünen-Vorsitzende. Selbst die erfahrene Moderatorin Anne Will sieht sich zur – eigentlich harschen – Nachfrage genötigt: Was heißt das jetzt? Sind die für eine Lockerung der Maßnahmen oder nicht?
Lindner nutzt den Moment und legt nochmals nach. Wieder im klassischen Dreisprung: Die getroffenen Entscheidungen seien willkürlich. Ob Möbel- oder Autohaus – die Frage sei nicht, wo man lockern könne, sondern wie? Ohnehin liege bei der Einschränkung von Grundrechten die Beweislast beim Staat, nicht bei den Lockerungswilligen. Und: Wer sich Sorgen um seine wirtschaftliche Existenz mache, erleide ebenfalls medizinische Schäden.
Somit sind die Streitlinien klar gezogen, auch Frau Baerbock lässt sich trotz hohler Phrasen den Lockerungsgegnern zuordnen. Nun folgt der Moment der vermeintlichen Schiedsrichterin aus München. Doch Wissenschaftsredakteurin Christina Berndt ist gar nicht so neutral. Sie ist überzeugt, durch die Lockerungen verspiele man leichtfertig die erreichten Erfolge im Kampf gegen das Corona-Virus.
Laschets Generalattacke
Als Anne Will nach der Gefahr einer zweiten Infektionswelle fragt, entfacht sich zwischen Armin Laschet und Karl Lauterbach ein leidenschaftlicher Streit. Laschet reitet eine Generalattacke gegen die warnenden Epidemiologen. Dauernd veränderten diese die Bedingungen für Lockerungen: Zuerst habe man italienische Verhältnisse verhindern wollen, dann die Verdoppelungszahl der Neuinfektionen auf 10, kurz darauf auf 14 Tage steigern wollen. Inzwischen stehe man schon bei 22 Tagen. Und noch immer hätten sie nicht genug, klagt Lachet. Plötzlich sollte man den R-Faktor – also die Reproduktionszahl – unter den Wert 1 drücken, was man mit aktuell 0,9 ebenfalls geschafft habe.
Doch Laschet ist sich sicher, auch das werde den Virologen nicht genügen. Der Ministerpräsident hat schon die nächste Vorgabe vor Augen: Die Zahl der Neuinfektionen auf wenige 100 Fälle zu begrenzen. Um seinen Punkt zu verdeutlichen, nimmt er sich Alexander Kekulé vor. Der Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle habe in den vergangenen Wochen immer wieder seine Meinung geändert. Nun sollte es jedem klar sein: Wie soll er als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Erfolg haben, wenn die Virologen immer wieder Meinungen und Parameter verändern?
Karl Lauterbach kann beides nicht ertragen – weder Laschets Loblied auf das Erreichte, noch den Generalangriff auf die Virologie. Erreicht habe man kaum etwas, sondern vor allem Glück gehabt, erwidert Lauterbach. 80 Prozent Glück, dass man nicht als erstes Land von der Katastrophe getroffen worden sei und deshalb viel Zeit gehabt habe, sich auf das Virus vorzubereiten. Zudem sei die erste Welle regional aufgetreten, beispielsweise im Kreis Heinsberg. Eine mögliche zweite Infektionswelle könnte jedoch bundesweit auftreten und viel gravierendere Folgen haben.
Dann räumt Lauterbach ein, dass Professor Kekulé ein besonderer Fall sei. Die inzwischen sehr bekannten Kollegen Schmidt-Chanasit oder Drosten hätten jedoch immer eine stringente Meinung vorgetragen. Auch der wechselnde Fokus von Verdoppelungszahl auf R-Faktor und zukünftig auf die Zahl der Neuinfektionen sei unter virologischen Gesichtspunkten absolut richtig. Die Verschiebung spiegele den Verlauf einer Pandemie wieder. Wissenschaftsredakteurin Christina Berndt spricht davon, dass auch Daten ihre Zeit haben, und manche im Verlauf einer Pandemie schlicht nicht mehr relevant seien.
Ausweg aus dem Grünen Phrasennebel
Dieser leidenschaftliche Diskurs scheint Annalena Baerbock aus ihrem Phrasennebel befreit zu haben. Die Grünen-Vorsitzende richtet den Blick nach vorne und fordert, für weitere Öffnungen müsse man die notwendigen Voraussetzungen schaffen. An den wiedergeöffneten Schulen sei eben nichts super gelaufen, wie Laschet zuvor noch behauptet. Vielmehr sei man dort überfordert gewesen, weshalb sie sich frage, was in den Wochen des Lockdowns eigentlich gemacht wurde. Ein Konzept für Unterricht in Corona-Zeiten habe man offensichtlich nicht erarbeitet. Ähnlich fatal stehe es um die Gesundheitsämter oder die geplante Corona-Tracking-App.
Doch Armin Laschet ficht das alles nicht. Er hat sich an diesem Abend ein einfaches Mantra zurechtgelegt: Ich? Ich kann für nichts. Schuld sind immer nur die anderen. Waren es zuvor noch die Virologen, sind es nun die Kommunen.
Er habe sich auch gewundert, aber verantwortlich für die Schulen sei nicht der Ministerpräsident, sondern die jeweilige Kommune oder Stadt. Bei ihm in NRW habe dennoch Schulministerin Yvonne Gebauer Desinfektionsmittel und Seife besorgt und den Schulen im Land angeboten – obwohl das gar nicht ihre Aufgabe sei, wie Laschet berichtet. Für die Gesundheitsämter sei er ebenfalls nicht zuständig. Und die Corona-App, ja die solle europäisch gelöst werden.
Klarer sind hingegen Laschets Gesprächspartner. Karl Lauterbach nennt für weitere Öffnungen drei Voraussetzungen. Erstens: Masken in OP-Qualität für alle. Würden 60 Prozent der Bevölkerung solche Masken tragen, ließe sich der R-Faktor dauerhaft unter 1 halten. Zweitens: Eine funktionierende Tracking-App, denn das Nachvollziehen von Infektionsketten durch die Gesundheitsämter sei schlicht unmöglich. Und Drittens: Massenhafte Test, rund zwei Millionen Test pro Woche. Alle drei Punkte seien derzeit jedoch nicht erfüllt, resümiert Lauterbach.
Es ist eine spannende und durchaus leidenschaftliche Sendung. Anne Will glänzt durch dezente Zurückhaltung und gezieltes Nachfragen, wo immer nötig. Karl Lauterbach scheint sich seiner vermeintlich unpopulären Haltung bewusst, wirkt jedoch von der medizinischen Notwendigkeit weiterer Einschränkung überzeugt. Genauso überzeugt ist Christian Lindner, der durch eine klare liberale Position seine FDP zurück in die politische Arena bringen will. Diese wurde in der Vor-Corona-Zeit vor allem von den Grünen beherrscht, doch in Zeiten der Pandemie muss zumindest Annalena Baerbock ihre Position noch finden.
Bliebe der NRW-Ministerpräsident. Armin Laschets „Ich-wasche-meine-Hände-in-Unschuld“-Mantra wirkt angesichts einer lebensgefährlichen Pandemie nicht nur deplatziert, sie wirft auch mindestens die Frage auf: Wenn tatsächlich alles so schlecht läuft – wofür er wohl nichts kann, was ihn aber doch zumindest verwundert – wie kann er dann ernsthaft weitere Lockerungen fordern? Dem Anliegen weiterer Öffnungen tut er an diesem Abend jedenfalls keinen Gefallen.
Des Deutschen liebstes Hobby
Kurz vor Schluss kommt dann noch die Rede auf des Deutschen liebstes Hobby: den Fußball. Die Deutsche Fußballliga DFL drängt mit einem eigenen Hygienekonzept auf die Wiederaufnahme des Spielbetriebs. Und auch am Fußball werden nochmals die genannten Positionen deutlich. Karl Lauterbach ist dagegen, da das DFL-Konzept allem widerspreche, was man derzeit umsetzen wolle – von der Kontaktbeschränkung bis hin zur Quarantäne im Infektionsfall. Annalena Baerbock ist ebenfalls dagegen und warnt vor den Konsequenzen, wenn die gesamte Gesellschaft sich unter Schmerzen einschränke, während die Fußballprofis einfach wieder kicken würden. So verspiele man den sozialen Zusammenhalt, warnt die Grünen-Vorsitzende.
Christian Lindner ist dafür, kritisiert abermals die Frage nach dem Wo und verweist stattdessen auf das Wie. Wenn ein Betrieb die Voraussetzungen erfülle, dann solle er auch öffnen dürfen, appelliert der FDP-Vorsitzende. Und selbst Armin Laschet bleibt beim Fußball seiner „Ich-wasche-meine-Hände“-Haltung treu. Angesprochen auf mögliche Probleme erwidert der NRW-Ministerpräsident lapidar: Im Konzept der DFL heißt es, das werde nicht passieren. Die Frage nach der Verantwortung wäre für ihn also wieder geklärt.