Türkei : Die Vernunft der Diktatoren
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Berlin setzte bislang darauf, dass wenigstens Erdogans Berater wüssten, wie wichtig für die Türkei gute politische und wirtschaftliche Beziehungen zur EU und zu Deutschland sind. Bild: dpa
Berlins Geduld mit Erdogan ist erschöpft. Doch auch die „neue“ deutsche Türkei-Politik hat sich an den Interessen Deutschlands zu orientieren.
Auch die angekündigte Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik ist noch weit von einem totalen Bruch mit Ankara entfernt. Sie steht aber für das Ende der Geduld, die sich Berlin im Umgang mit dem zunehmend schwieriger werdenden Nato-Verbündeten am Bosporus verordnet hatte. In Gabriels Erklärung steckt das Eingeständnis, dass sich die deutsche Politik der Eskalationsvermeidung nicht ausgezahlt hat. Erdogan hat sie möglicherweise als Schwäche und Erpressbarkeit (wegen des Flüchtlingsabkommens) missinterpretiert, jedenfalls aber nicht mit der von Berlin erhofften „Rückkehr zur Vernunft“ honoriert. Seit dem Putschversuch vor einem Jahr folgt er ganz offen einer anderen politischen Vernunft – der Vernunft der Diktatoren. In deren Wertepyramide stehen Ausbau und Absicherung ihrer Herrschaft ganz oben.
Auch für die Stabilität eines autoritären Regimes ist es durchaus von Bedeutung, wie es einem Land wirtschaftlich geht und welche Entwicklungsperspektiven es hat. Berlin setzte bisher darauf, dass wenigstens Erdogans Berater wüssten, wie wichtig für die Türkei gute politische und wirtschaftliche Beziehungen zur EU im Allgemeinen und zu Deutschland im Besonderen sind. Gebracht hat das nichts. Nun zeigt Berlin erstmals auch öffentlich die Instrumente vor, mit denen sie Erdogan zwar nicht das Leben, aber doch das Herrschen schwerer machen kann. Doch erreicht ihn das in seinem doppelten Verfolgungswahn noch? Auch in Zukunft wird man mit aus unserer Sicht irrationalen Aktionen und Reaktionen rechnen müssen.
Umso wichtiger ist es, selbst einen kühlen Kopf zu bewahren. Auch die „neue“ Türkei-Politik hat sich an den Interessen Deutschlands zu orientieren. Deutsche Staatsangehörige sind vor willkürlicher Verhaftung und Geiselnahme zu schützen. Deutsche Soldaten müssen von deutschen Abgeordneten besucht werden können, in welchem Verband sie auch Dienst tun. Hier wünscht man sich von der Nato eine deutlichere Positionierung. Ihr kann es schließlich ebenfalls nicht gleichgültig sein, wenn ihr Flügelmann im Südosten zunehmend zu einer jener Figuren wird, vor der das Bündnis seine Mitglieder beschützt. Doch liegt es auch nicht im strategischen Interesse der Europäer, diese Verwandlung aktiv voranzutreiben – die Autokratie ist ohnehin auf der Welt auf dem Vormarsch. Auch die „neue“ deutsche Türkei-Politik wird daher eine Gratwanderung bleiben.