Ukrainer über ihr Land : Wie blickt die Ukraine auf Europa?
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Mehr noch: Angesichts der offensichtlichen Schwäche und Armut des eigenen Staates suchen die Ukrainer nach jemandem, der ersatzweise die „Vaterrolle“ zu übernehmen könnte. Im mittleren Teil des Landes verlangen die Menschen nahezu, der Westen möge sich um sie kümmern. Ihrer festen Überzeugung nach sind Europa und die Vereinigten Staaten schlichtweg verpflichtet, ihnen zu helfen und sie dazu zu zwingen, „in die Schule zu gehen“ und „die Hausaufgaben zu machen“. Andernfalls, so wird angedeutet, könne man eventuell „in schlechte Gesellschaft geraten“. Im Osten der Ukraine wiederum setzen viele ihre Hoffnungen seit langem auf Russland, von dem sie erwarten, dass es sie politisch auf ewige Zeiten „Kinder“ bleiben lässt.
„Stereoscope Ukraine“ : Ivan Yakovina stellt sich vor
In dieser Lage bestünde die beste Strategie des Westens möglicherweise darin, jene Ukrainer zu fördern, die bereit sind, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Mehr noch als Waffen und Kredite braucht die Ukraine Austauschprogramme für Studierende und junge Fachkräfte sowie die europäische Erfahrung mit dem Aufbau lokaler Selbstverwaltungen. Umfangreiche Hilfe aus dem Westen wird die Ukraine nicht mehr brauchen, wenn sie erst selbst Teil des Westens geworden ist und wenn ihre Bürger sich die europäischen Werte fest zu eigen gemacht haben.
Roman Dubasevytch
Vor einigen Tagen unternahmen eine Bekannte und ich nach dem Frühstück einen kleinen Spaziergang. Das Wetter war herrlich: Es war der zweite richtige Frühlingstag des Jahres, die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und noch leicht benommen vom Winterschlaf schwirrten die ersten Hummeln herum. In dem Wäldchen im Hamburger Stadtteil Volksdorf roch es berauschend nach feuchter Erde und Reisigfeuern – ganz wie auf den Datschen und in den Gärten zu Hause. Und je schöner der Frühling und das Erwachen der Welt aus der Winterstarre wirkte, desto unwirklicher schien, was zugleich in der Ukraine geschah, dass dort weiterhin Menschen umkamen.
Nach wenigen Minuten stießen Marie-Luise und ich auf eine Absperrung. Sie bestand aus einem hohen, mit Warnlichtern bestückten Kunststoffzaun, wie man ihn von Baustellen kennt. „Sieh dir das an! Hast du schon mal so eine Schutzwand für Frösche gesehen?“ fragte meine Bekannte lächelnd. Ich starrte auf das Schild mit dem aufgemalten Frosch. „Die wird ein Mal im Jahr aufgestellt, damit die Tiere ungestört zum Laichen aus dem einen See in den anderen wandern können“, erläuterte meine Begleiterin und lächelte wieder.
Als sie mir dann auch noch erzählte, wie schwierig es sei, eine Genehmigung zu bekommen, wenn man in diesem als Naturschutzgebiet ausgewiesenen Wäldchen auch nur einen kranken Baum fällen wolle, empfand ich unwillkürlich Neid und Schmerz. Das Leben eines Frosches oder Baumes schien mir in Deutschland mehr wert zu sein als heutzutage ein Menschenleben in der Ukraine oder Russland. Zugleich war ich für diesen Spaziergang ungeheuer dankbar, hatte er mich doch vom bedrückenden Nachdenken über die Ukraine abgelenkt und mir zudem die Geschichte mit den Fröschen eingebracht.
„Stereoscope Ukraine“ : Roman Dubasevych stellt sich vor
Es ist für uns sehr wichtig, finanzielle und wirtschaftliche Hilfen aus Europa zu erhalten. Nicht weniger wichtig scheint mir aber auch die Sache mit den Fröschen. Wir brauchen möglichst viele solcher Geschichten. Denn sie führen vor Augen, wie Deutschland (als einst brutales, dann vom Kriege ausgezehrtes Land) beziehungsweise Europa sich in eine hochzivilisierte Gesellschaft verwandelt hat, die sich sogar noch um ein Froschleben sorgt.
Die Autoren
Yevgenia Belorusets ist eine ukrainische Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lebt und arbeitet in Kiew und teilweise in Berlin. Sie ist Mitbegründerin der Zeitschrift für Literatur und Kunst „Prostory“ und der kuratorischen Gruppe „Hudsovet“. Sie arbeitet mit Fotografie, Video und Text an der Schnittstelle zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement, Literatur und Fotografie. Derzeit erstellt sie eine Fotodokumentation über den Alltag in den vom Krieg betroffenen Gebieten der Ostukraine.
Boris Chersonskij, Dichter und Arzt aus Odessa, war zu Sowjetzeiten ein wichtiger Vertreter des Samisdat. Für seine russischsprachige Lyrik erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, auch in Russland. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Gedichtband „Familienarchiv“ (Wieser 2011). Anfang Februar dieses Jahres explodierte vor seiner Wohnung eine Bombe, die unbekannte Attentäter dort deponiert hatten.
Roman Dubasevych, Kulturwissenschaftler aus Lwiw (Lemberg), hat in Regensburg und Greifswald studiert und derzeit eine Vertretungsprofessur an der Universität Greifswald inne. Er beschäftigt sich unter anderem mit Erinnerungskultur und Postmoderne.
Oleksandra Dvoretskaya ist eine Menschenrechtlerin aus Simferopol auf der Krim. Im März 2014 flüchtete sie nach Kiew. Dort arbeitet sie derzeit als Koordinatorin bei der Organisation „Wostok SOS“, die sich um ukrainische Binnenflüchtlinge kümmert.
Olena Stepova nannte sich vor dem Krieg noch russisch Jelena Stepanez. Sie lebt in Swerdlowsk, einer Stadt im Gebiet Luhansk. Seit Ausbruch des Krieges im Donbass betreibt sie mehrere Blogs, in denen sie ihre Beobachtungen über Stimmung und Befindlichkeiten der Menschen in der Ostukraine mitteilt.
Ivan Yakovina ist ein Moskauer, der im westukrainischen Lwiw (Lemberg) lebt und in Kiew arbeitet. Er ist Auslandsredakteur und Analyst des Magazins „Nowoje Wremja“ und außerdem Leiter des Fernseh-Programms „Hromadske.tv auf Russisch“. Bis zum Frühjahr 2014 war er Redakteur beim unabhängigen russischen Internetmagazin lenta.ru. Er ging, als die Chefredakteurin entlassen wurde und das Magazin eineKreml-nahe Leitung bekam.
Die Gastbeiträge der Reihe „Stereoscope Ukraine“ erscheinen fünf Wochen lang jeden Freitag.