Reinhard Merkel : Die Triage-Entscheidung hilft Behinderten nicht
- -Aktualisiert am
Triage-Praxis in einer niedersächsischen Klinik. Bild: dpa
Der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel kritisiert den Triage-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter würden Kriterien zur Hand nehmen, die unpräzise seien.
Mit allem schuldigen Respekt vor dem höchsten deutschen Gericht: das ist ein tief enttäuschender Beschluss. Er gibt den Verfassungsbeschwerden statt, aber den behinderten Menschen, von denen sie erhoben wurden, Steine statt Brot. Er erklärt die „klinische Erfolgsaussicht“ als Kriterium der Entscheidung zwischen lebensrettender Zuteilung und tödlicher Verweigerung einer Intensivbehandlung in Triage-Situationen für fraglos zulässig, ohne zu erwägen, was dieses Kriterium für eine so folgenschwere Rolle qualifizieren könnte, und daher ohne Blick dafür, dass es in vielen Konfliktlagen zu befremdlichen Lösungen führen müsste. Und er lässt schließlich den Gesetzgeber, den er mit Nachdruck zu „unverzüglichem“ Handeln verpflichtet, ohne orientierende Maßgabe.
Wenig einwenden mag man gegen die Prämisse, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt: In echten Triage-Situationen sei das Risiko nicht von der Hand zu weisen, dass Menschen mit Behinderungen systematisch benachteiligt würden, im schlimmsten Fall mit tödlichen Folgen. Zustimmen wird man auch der daraus gezogenen Konsequenz. Vor diesem Hintergrund könne sich die staatliche Schutzpflicht aus dem Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes ausnahmsweise zu dem Gebot verdichten, jenem Risiko mit besonderen Gesetzen zu begegnen. Nicht mehr auszuschließen sei zudem eine Überlastung der Intensivstationen, und daher auch nicht mehr der Notstandszwang für zuständige Ärzte, in Einzelfällen Triage-Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen. Um für solche Fälle die Gefahr einer Diskriminierung Behinderter zu unterbinden, müsse der Gesetzgeber „unverzüglich“ handeln.
Wie? Das sei, sagt der Senat, allein Sache des Gesetzgebers, der dafür einen weiten „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ habe. Was aber bloß wie der unverfängliche Hinweis auf die Grenzen justizieller Zuständigkeit anmutet, bedeutet hier weitaus mehr: das vollständige Absehen von einer Diskussion, die in der Rechtswissenschaft seit Beginn der Pandemie geführt wird und in der nicht nur das Problem verwirrend umstritten ist, welche Kriterien für Triage-Entscheidungen normativ tragfähig wären, sondern schon die prinzipielle Frage, ob sich solche Kriterien überhaupt sinnvoll in eine zwangsrechtliche Regelung fassen ließen, die im Rahmen der Verfassung bliebe.
Nun muss man genau hinsehen: Der Senat verpflichtet den Gesetzgeber nicht zur gesetzlichen Regelung der Triage. Vielmehr verpflichtet er ihn, Diskriminierungen zu verhindern. Das ist nicht das Gleiche und es ließe sich, könnte man meinen, unschwer mit einem Gesetz erreichen, das die im Grundgesetz verbotenen Differenzierungsgründe (und einige weitere) für Entscheidungen auf Intensivstationen ausdrücklich untersagte. Freilich spricht nichts dafür, dass solche Gründe dort bewusst herangezogen und damit offen verwerfliche Entscheidungen getroffen würden. Was der Senat und die Beschwerdeführer befürchten, ist etwas anderes: der Einfluss unbewusster Vorurteile und darauf beruhender Fehleinschätzungen der klinischen Aussichten behinderter oder chronisch vorerkrankter Menschen in Fällen schwerer Covid-19-Verläufe. Daraus erklärt sich der ungewohnt strikte Ton des höchstrichterlichen Befehls an den Gesetzgeber, „unverzüglich“ zu handeln. Denn offene Diskriminierungen zu verbieten, ist zwar richtig, erschiene jedoch wenig dringlich. Will man aber unbewusst diskriminierende Entscheidungen verhindern, wird man denen, die sie gegebenenfalls träfen, wohl oder übel nicht nur die negativen Kriterien untersagen, sondern die positiven, die sie anzuwenden haben, vorschreiben müssen.