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Ist Palästina schon ein Staat? : Der Internationale Strafgerichtshof hat sich für zuständig erklärt

  • -Aktualisiert am

Das Palästinensische Autonomiegebiet Rafah. Ist Palästina schon ein Staat? Bild: dpa

Die Möglichkeit ein Ermittlungsverfahrens in der „Situation im Staat Palästina“ zu eröffnen verdichtet sich immer mehr. Die israelische Reaktion kam sofort und war ungehalten.

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          Der Internationale Strafgerichtshof verfügt über die Zuständigkeit zu ermitteln, ob seit dem 13. Juni 2014 im Gazastreifen und im Westjordanland unter Einschluss von Ost-Jerusalem Kriegsverbrechen begangen worden sind. So hat es eine mit drei Richtern besetzte Kammer des Gerichtshofs am vergangenen Freitag mit Stimmenmehrheit entschieden. Damit hat sich die seit längerer Zeit im Raum stehende Möglichkeit der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens in der „Situation im Staat Palästina“ kurz vor dem Ende der Amtsperiode der Chefanklägerin des Gerichtshofs, Fatou Bensouda, bis zur Entscheidungsreife verdichtet.

          Das Ermittlungsverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof würde neben möglichen Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg vom Sommer des Jahres 2014 auch die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland zum Gegenstand haben. Die Reaktion des israelischen Ministerpräsidenten auf die gerichtliche Entscheidung ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten, und sie war ungezügelt: Es handele sich um „reinen Antisemitismus“. Auch für die palästinensische Seite ist das Verfahren ein Politikum ersten Rangs. Das Bemühen der Palästinenser, den Internationalen Strafgerichtshof mit dem NahostKonflikt zu befassen, ist Teil einer umfassenden politischen Strategie, den eigenen völkerrechtlichen Status außerhalb der seit geraumer Zeit ins Stocken geratenen bilateralen Verhandlungen mit Israel zu konsolidieren. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, dass dem Gerichtshof im Fall der Verneinung seiner Zuständigkeit wenigstens zwischen den Zeilen der Vorwurf des „Neokolonialismus“ entgegengeschlagen wäre. In ihrer Entscheidung vom vergangenen Freitag macht die Kammer gleich eingangs deutlich, dass ihr bewusst ist, dass sie sich auf politisch vermintem Terrain bewegt. Zu Recht stellt sie indessen fest, dass intensive politische Konflikte häufig den Hintergrund von Völkerstraftaten bilden und dass es dem Mandat des Internationalen Strafgerichtshofs zuwiderliefe, Strafverfahren deshalb nicht durchzuführen, weil sie in einen hochpolitischen Kontext eingebettet sind.

          Die Anklägerin hatte im Verfahren den Standpunkt bezogen, die Kammer habe nicht zu prüfen, ob es sich bei Palästina um einen Staat im Sinn des Völkergewohnheitsrechts handelt. Stattdessen sei von einem speziell auf die Zwecke des Statuts zugeschnittenen Staatsbegriff auszugehen. In diesem Sinn sei Palästina deshalb als Staat zu betrachten, weil die UN-Vollversammlung Palästina den Status eines Beobachterstaats eingeräumt, der Generalsekretär der Vereinten Nationen die Beitrittserklärung Palästinas zum Statut in der Folge als diejenige eines Staats entgegengenommen und Palästina seither als Vertragsstaat in der Versammlung der Vertragsstaaten des Statuts mitgewirkt hat. Richter Perrin de Brichambaut und die Richterin Alapini-Gansou sind dieser Position im Kern gefolgt. An diesem Punkt widerspricht der Vorsitzende Richter Kovács der Mehrheit in seinem abweichenden Votum ebenso nachdrücklich wie eingehend. Der von der Mehrheit gezogene Schluss von der Vertragsstaatlichkeit Palästinas auf dessen Staatlichkeit im Sinn des Zuständigkeitsregimes sei letztlich eine unbegründete Behauptung geblieben. Richter Kovács’ eingehende Überlegungen zum rechten Umgang mit den Begriffen „Vertragsstaat“ und „Staat“ im Statut sind für den vertrackten Fall Palästina deshalb bedeutsam, weil sich bei genauer Betrachtung des Abstimmungsverhaltens der Staaten in der Vollversammlung der Vereinten Nationen zeigt, dass der Zuerkennung des Status eines Beobachterstaats an Palästina nicht die gemeinsame Überzeugung zugrunde lag, Palästina erfülle die völkergewohnheitsrechtlichen Voraussetzungen der Staatlichkeit. Dementsprechend finden sich in Dokumenten der Vereinten Nationen bis in die jüngste Vergangenheit Formulierungen, denen zufolge es die Staatlichkeit Palästinas erst noch herzustellen gelte. Nach dem von Kovács entwickelten Maßstab bleiben insbesondere Ost-Jerusalem und der im Abkommen „Oslo II“ als „Gebiet C“ bezeichnete Teil des Westjordanlands, in dem sich zahlreiche israelische Siedlungen befinden, von der räumlichen Zuständigkeit des Gerichtshofs ausgenommen.

          Nimmt man das alles in den Blick, so wird deutlich, dass die Anklägerin nur vordergründig erfolgreich war. Letztlich hat sie ihr erklärtes Ziel, der Eröffnung des Ermittlungsverfahrens in der „Situation im Staat Palästina“ zu einer robusten gerichtlichen Rückendeckung zu verhelfen, in nicht unbeträchtlichem Umfang verfehlt. In dieser Lage wäre die Befassung der mit fünf Richtern besetzten Rechtsmittelkammer des Internationalen Strafgerichtshofs wünschenswert. Dass die Chefanklägerin einen solchen – in Anbetracht ihres vordergründigen Siegs vom Freitag – verfahrensrechtlich ausgesprochen kühnen Schritt tun wird, ist indessen nicht zu erwarten. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass sie das Ermittlungsverfahren alsbald eröffnen wird. Das weitere Verfahren wird dann im Wesentlichen ihr Nachfolger zu betreiben haben. Sein Weg wird mit rechtlichen und tatsächlichen Herausforderungen reichlich gepflastert sein. Von den politischen Minen am Wegesrand ganz zu schweigen.

          Professor Dr.Claus Kreß lehrt deutsches und internationales Strafrecht an der Universität Köln.

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