Gastbeitrag: Willkommenskultur : In Vielfalt geeint
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Bild: Greser & Lenz
Willkommenskultur als Leitkultur – Die Geschichte zeigt eine prägende Eigenschaft von Staatlichkeit: Deutschlands Stärke lag stets in seiner Vielfalt.
Nachdem die harten Verfolgungen ... viel Familien veranlaßet, ... hinweg in andere Lande sich zu begeben, dass Wir daher aus gerechtem Mitleiden ... bewogen werden, vermittelst dieses ... Ediktes denselben eine sichere ... Zufluchtsstätte in allen Unseren Ländern ... anzubieten und ihnen ... kundzutun, was für Gerechtigkeiten, Freiheiten und Prärogativen Wir ihnen zuzugestehen gnädigst gesonnen sind, um dadurch die große Not ... erträglicher zu machen.“
Der Versuch einer Verordnung, die von der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise ausgerufene Willkommenskultur in rechtliche Sprache zu gießen, würde vermutlich kaum anders klingen. Doch: Es handelt sich um einen Regierungsakt des Jahre 1685. Mit dem Edikt von Potsdam gewährte Friedrich Wilhelm von Brandenburg den in Frankreich durch die Aufhebung des Toleranzediktes von Nantes verfolgten protestantischen Hugenotten freie Niederlassung in seinem Kurfürstentum, die Befreiung von Steuern und Zöllen, und staatliche Förderung von Betriebsgründungen und Pfarrstellen. Die Motivation hinter dieser Politik der offenen Grenzen war vielfältig. Sie reichte von ökonomischen Interessen an der wirtschaftlichen Umtriebigkeit der Calvinisten bis zu christlichen Motiven der Nächstenliebe und Verbundenheit mit den reformierten Glaubensbrüdern. Der Große Kurfürst verfolgte so eine liberale Asylpolitik, die sich aus einer Mischung von humanitärer Verpflichtung und staatlichem Eigeninteresse speiste.
Damit war das Potsdamer Toleranzedikt Zeugnis einer historisch begründeten Einsicht, die fast völlig aus dem Blickfeld der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte geraten ist, weil diese ihre geschichtliche Perspektive, wenn sie eine solche überhaupt einnimmt, auf den im späten 19. Jahrhundert geborenen deutschen Nationalstaat verengt. So ergibt sich die Auffassung, dass Deutschland durch die Einwanderung der vielen vor allem muslimischen Flüchtlinge seine nationale Identität zu verlieren drohe. Doch dieses Urteil übersieht das longue durée der deutschen Geschichte seit der frühen Neuzeit und so jene über Jahrhunderte prägende Eigenschaft deutscher Staatlichkeit übersieht, für die das Potsdamer Edikt beispielhaft steht: Deutschlands Wesen und Stärke lagen stets in seiner Vielfalt.
Visueller Ausdruck dieses Leitmotivs deutscher Geschichte ist die Landkarte. Jenseits aller territorialen Veränderungen blieb über die Jahrhunderte eine Konstante: Deutschlands geographische Lage im Zentrum Europas bestimmt seine staatliche Physiognomie. Permanente Ein- und Auswanderungsbewegungen waren daher beständige Kennzeichen des deutschen Territoriums. Als Schnittstelle zwischen Ost und West vereinte es vielfältige Länder, Sprachen und Religionen, die sich erst im Verlauf der Jahrhunderte als deutsch zu verstehen begannen. Am deutlichsten fanden das Ausdruck in der Tradition eines dezentral organisierten Staatswesens.
Die eindrucksvollste Manifestation dieser Vielfalt war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nach dem Westfälischen Frieden von 1648 bestand dieser loser Bund aus einem Flickenteppich von nicht weniger als dreihundert weltlichen und geistlichen Fürstentümern. Diese Vielstaaterei war mehr als lähmender Partikularismus, der, wie schon die Zeitgenossen beklagten, die Entstehung eines einheitlichen Nationalstaates wie in Frankreich oder England verhinderte. Sie war Ausdruck einer Diversität, die ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert zu einer kulturellen Blüte führte und Deutschland zu einem europäischen Zentrum von Literatur, Musik, und Philosophie machte. Auf staatlicher Ebene entzog sich diese Vielfalt der Rationalität der Staatstheoretiker. Samuel von Pufendorf verzweifelte fast an der Gemengelage des Reiches. Es als ein „irreguläres und einem Monstrum ähnlichen Körpers“ abzulehnen, wie er es tat, heißt aber, seine Vielfalt in uniformen Kategorien denkend misszuverstehen. Voltaire hat das Wesen des „Monstrums“ vielleicht am besten erkannt mit seiner Charakterisierung, das Heilige Römische Reich sei weder römisch, noch heilig, noch ein Reich. Es war vielmehr ein aus Vielfalt gewachsenes organisches Gebilde.