Gastbeitrag : Richter ohne Grenzen
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Bild: F.A.Z.-Greser&Lenz
Gerichte befinden darüber, was in Gesetzen steht. Sie müssen die von der Gesetzgebung vorgegebenen Zwecke in denkendem Gehorsam verwirklichen - tun es aber oft nicht.
Recht ist in Deutschland das, was die obersten Bundesgerichte für Recht erklären. Sie befinden abschließend darüber, was in den Gesetzen steht. Die Deutungsmacht der Gerichte ist stärker als die Regelungsmacht des Parlaments. Kurz: Der Richterstaat ist unser Schicksal.
Macht wird von denen, die sie ausüben, in aller Regel geleugnet oder kleingeredet, auch von der Justiz. So meinte kürzlich der vormalige Präsident des Bundesgerichtshofes Hirsch, die Fortbildung des Rechts, also die Setzung von Richterrecht, sei eigentlich „nur die Fortsetzung der Auslegung des Gesetzes mit teilweise anderen Mitteln“. Es geht dabei um die Machtfrage, also um zentrale Fragen des gewaltenteilenden Rechtsstaates. Die Grenze zwischen Rechtsanwendung und richterlicher Normsetzung muss so genau wie möglich bestimmt, offengelegt und eingehalten werden.
Das Verhältnis zwischen Richter und Gesetzgebung wird von Hirsch und anderen mit dem Bild eines „mehr oder weniger virtuosen Pianisten“ im Verhältnis zur Partitur des Komponisten beschrieben. Der Richter könne von einem Gesetz abweichen, wenn die wortgenaue Anwendung der Norm zu ungerechten oder sachwidrigen Ergebnissen führe. Der Richter habe in solchen Fällen statt des Gesetzes (angeblich) „überpositives Recht“ anzuwenden. Die Proklamation eines Vorranges der Richtermacht gegenüber der Gesetzgebung wird ergänzt durch Äußerungen des vormaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hassemer, die Bindung des Richters an das Gesetz sei ein „unerfüllbarer Traum“. Nach seiner Vorstellung sind die Richter unabhängig von Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes in der Wahl ihrer jeweiligen Auslegungsmethode frei. Sie können sich danach erst das ihnen genehme Auslegungsergebnis suchen und dann die dazu geeignete Methode wählen.
Doppelte Verankerung
Diese These ist verfassungsfremd und irrig. Die Gesetzesbindung der Rechtsprechung wurde gleich zweimal im Grundgesetz verankert (Artikel 20 Absatz 3 und 97 Absatz 1). Die Schöpfer des Grundgesetzes erklärten die Grundsätze der Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes sogar für unabänderlich (Artikel 79 Absatz 3). Das Parlament als die Vertretung des demokratischen Souveräns hat eindeutig die Rechtsetzungsprärogative. Die Gerichte haben die von der Gesetzgebung vorgegebenen Normzwecke in „denkendem Gehorsam“ zu verwirklichen.
Die Artikel 20 Absatz 3 und 97 Absatz 1 enthalten das zwingende rechtsmethodische Gebot, bei jeder Rechtsanwendung zunächst den historischen Zweck der jeweils anzuwendenden Vorschriften zu erforschen. Das wird von der heute überwiegend vertretenen, irreführend als „objektiv“ bezeichneten Methode der Auslegung bestritten. Sie meint, die Rechtsanwendung habe sich nicht nur am Gesetz, sondern auch am „Recht“ zu orientieren. Die Bindung an „Recht und Gesetz“ nach Artikel 20 Absatz 3 verpflichte den Richter zu „schöpferischer Rechtsfindung“ bei der Suche nach dem angeblich „objektivierten“ Willen des Gesetzgebers.