Gastbeitrag : Noch einmal Opfer
- -Aktualisiert am
Bild: dpa
Für viele Geschädigte von Sexualstraftaten ist es wichtig, Beweise zu sichern, ohne dass sofort ein Strafverfahren eingeleitet wird.
Freispruch. Dieses Wort klingt vielen Verletzten schwerer Gewaltverbrechen und Sexualstraftaten wie Hohn in den Ohren. Sie wurden zu Opfern gemacht, die - an Leib, Seele und Ehre verletzt - um den Weg in ein normales Leben kämpfen und manchmal auch resignieren.
Verletzte sind von dem Verbrechen, das sie trifft, immer überrascht. Auch wenn bei Beziehungstaten der unmittelbaren Gewalt eine Auseinandersetzung vorausgeht, kommt die Gewaltanwendung doch meist unerwartet. Gerade Frauen werden Opfer von Sexualtaten und Gewalt und glauben zumeist nicht, dass der Täter - in mehr als zwei Dritteln der Fälle der Partner, Freund oder Bekannte - das wirklich tut. Sie fühlen sich schuldig, weil sie glauben, sie seien für die Eskalation seines Handelns verantwortlich und weil sie seine Tat nicht durch ihre Reaktion zu verhindern vermochten. Sie befürchten entsprechende Vorwürfe, wenn sie Freunden, Familie oder Kollegen darüber berichten. Nicht zuletzt aus diesem Schuldgefühl heraus scheuen sie den Weg in ein Strafverfahren oder in die Öffentlichkeit. Hinzu kommt die Scham, über derartige Erlebnisse aus der intimsten Privatsphäre überhaupt zu reden.
Eine detaillierte Schilderung der erlittenen Gewalt ist im Strafverfahren unverzichtbar, um die Tat rechtlich einordnen zu können. Dafür ist entscheidend, ob und in welcher Weise Gewalt bei der Vergewaltigung angewendet wurde, ob der Täter „nur“ mit Angriffen gegen die Ehre gedroht oder Gewalt gegen Leib und Leben angedroht hat, ob das Opfer tatsächlich in einer schutzlosen Lage war oder sich nur schutzlos fühlte. Weil für die juristische Beurteilung auch die Frage der Penetration oder der Tatbeendigung vor einem Eindringen in den Körper des Opfers über den Strafrahmen entscheidet, gehört nicht viel Phantasie dazu, sich die dem Opfer in einem Strafverfahren teils wiederholt gestellten Fragen vorzustellen. Das ist belastend und kann zu einer Schädigung durch das Verfahren selbst, einer „Sekundärviktimisierung“ führen.
EU-Entwurf für Mindeststandards im Opferschutz
Andererseits ist dieses Verfahren unverzichtbaren rechtsstaatlichen Prinzipien geschuldet: Zu ihnen gehört die Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten ebenso wie sein Recht auf rechtliches Gehör. Dieses umfasst das Recht auf Konfrontation mit dem Opfer und schließt auch das Recht auf Fragen zur Glaubwürdigkeit der Verletzten ein, was im Extremfall dazu führt, dass sich Verletzte selbst als angeklagt fühlen. Diese dem Beschuldigten in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierten und aus seiner Menschenwürde abzuleitenden Rechte erlauben indes nicht, die Rechte der Verletzten zu missachten.
In Beschuldigtem und Verletztem stehen sich zwei gleichrangige Menschen- und Grundrechtsträger gegenüber. Wenn in Artikel 6 der EMRK ein Recht auf ein faires Verfahren zum Schutz vor staatlicher Willkür festgelegt ist, dann muss dies nicht nur für die Tatverdächtigen, sondern ebenso für die Opfer gelten. Gegen sie darf der Staat auf der Grundlage strafprozessualer Schutzrechte für die Verdächtigen nicht zugleich eine Verletzung ihrer Menschenwürde oder im Kern ihres Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zulassen.
Diesem Gedanken trägt die nunmehr vom Rat der EU gezeichnete Roadmap zum Opferschutz Rechnung. Sie enthält den Entwurf einer Richtlinie für einheitliche Mindeststandards im Opferschutz. Wird diese Richtlinie verabschiedet, werden die Rechte der Opfer auf Schutz, Unterstützung, Zugang zum Recht und Ausgleich für das erlittene Unrecht erstmals einheitlich in einem verbindlichen europäischen Rechtsakt festgeschrieben. Deutschland, das in einigen Bereichen bereits gute Maßnahmen zum Opferschutz ergriffen hat, erhält hierdurch die Chance, diesen Stand auszubauen und unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze den Umgang mit Opfern ihrem Menschenrechtsstatus gemäß zu gewährleisten.