Einspruch Exklusiv : Das gebrochene Versprechen des Rechtsstaats
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Chaos am Flughafen von Kabul: Menschen rannten aus Angst vor den Taliban auf die Flugbahn. Bild: dpa
Es ist die rechtliche Pflicht dieser Bundesregierung, mit allen diplomatischen Kräften – jetzt und nicht erst nach der Wahl – darauf hinzuwirken, dass nicht nur Deutsche ohne Visum in Nachbarländer aus Afghanistan ausreisen können, sondern auch alle jene, denen wir verpflichtet sind, denen wir unser Wort gegeben haben.
Ein „Afghani“ (auf Deutsch: Afghane/afghanisch) zu sein, hatte im Iran die gleiche Konnotation wie ein Mexikaner in den USA. Einem Afghanen in Teheran zu begegnen, war möglichweise die einzige Gelegenheit, bei der überhebliche Perser sich gegenüber einer anderen Bevölkerung überlegen glauben konnten – wie häufig musste ich mich als iranischer Teenager für diese Haltung gegenüber Menschen, die größtenteils derselben Sprache mächtig waren wie wir, in Grund und Boden schämen. Meist arbeiteten die afghanischen Geflüchteten schwarz auf Baustellen. Ohne Dokumente blieb ihnen bestenfalls ein Hungerlohn. Einige Iraner, die wahrlich christlicher lebten als manche, die dies hier bei uns für sich in Anspruch nehmen, versorgten sie so gut es eben ging. Politisch Einfluss nehmen konnten sie schließlich nicht einmal auf die staatliche Willkür im eigenen Land, ganz zu schweigen von jener im verwundeten Nachbarland.
In der Bundesrepublik Deutschland, meinem ausgewählten Heimatland, hingegen soll jeder Staatsbürger an diesem Sonntag politischen Einfluss nehmen können: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, sagt die deutsche Verfassung. Sie wird vom Souverän in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Und für ewig garantiert uns das Grundgesetz: Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Kurzum: Deutschland verspricht sich, ein Rechtsstaat zu sein.
Für die Bundesregierung als exekutive Gewalt bedeutet dies: Ihr Tun und Unterlassen muss gesetzmäßig sein. Politischer Opportunismus vor der Wahl wie „2015 darf sich nicht wiederholen“ ist zwar nicht per se verboten, jede politische Entscheidung und Nicht-Entscheidung muss sich allerdings an Recht und Gesetz messen lassen. Es mag den politischen Willen geben, den Zuzug weiterer Ausländer strikt zu begrenzen. Populisten von rechts fürchten viele offenbar mehr als ihr Gewissen. So weit so gut. Jede demokratische Gesellschaft soll frei entscheiden, wie viel Weltoffenheit, Vielfalt, Solidarität und Nächstenliebe sie noch verträgt.
Jeder sah es kommen
Die Verfassung, die Gesetze und die darauf basierenden Schutzpflichten des Staates gegenüber seinen Schutzbefohlenen sind indes gerade Ausdruck des demokratischen Willens des Volkes. Um nichts anderes als Schutzbefohlene geht es, wenn wir von afghanischen Ortskräften sprechen. Menschen, die während der letzten zwanzig Jahre unseren Soldaten, unserem „Parlamentsheer“, unseren Entwicklungshelfern, ja letztlich uns, dem deutschen Volk gedient haben – wir haben sie zurückgelassen, darunter auch viele Afghaninnen und Afghanen mit deutschen Pässen. Berichtet wurde (ZDFheute live, 25.08.2021), dass im Ausnahmezustand der Evakuierung gar zwischen gebürtigen Deutschen und den Eingebürgerten differenziert worden sei. Im Ausnahmezustand, so lehrt uns Carl Schmitts Politische Theologie, entscheidet sich, wer souverän ist.
Sollten sich diese Berichte als zutreffend erweisen, wäre die damit einhergehende Botschaft der Bundesregierung an die eigene Bevölkerung, insbesondere an 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund verheerend: Im Notfall rette ich mein eigenes Blut. Auch im 21. Jahrhundert scheint es in Deutschland noch immer dicker zu sein als das rechtsstaatliche Versprechen gleicher Würde für alle. Aber auch wenn es – was zu hoffen ist – nicht so war, ist bevorzugte Rettung eigener Staatsangehöriger und die Zurücksetzung anderer gefährdeter Menschen, gegenüber denen die Bundesrepublik besondere Schutzpflichten hat, nicht überzeugend.