Aus Wissenschaft und Praxis : Ohne Lastenteilung
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Ein Wirrwar - Deutsche und europäische Gerichte versuchen, die Konstruktionsfehler des europäischen Asylrechtssystems zu beheben.
Europäische Gemeinschaftsprojekte sind krisenanfällig - jedenfalls wenn Felder ausgeklammert bleiben, die wesentlich für das Gelingen des Vorhabens sind. Es gibt also Parallelen zwischen der europäischen Schulden- und Finanzkrise und dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem. „Dublin II ist in gewisser Weise dem Euro vergleichbar“, umriss Daniel Thym, Direktor des Forschungszentrums Ausländer- & Asylrecht (FZAA) an der Universität Konstanz, auf dem Migrationspolitischen Forum in Berlin das Ausmaß der europäischen Probleme beim Flüchtlingsschutz.
Die Dublin-II-Verordnung regelt die Zuständigkeit für Asylverfahren. Grundsätzlich soll das Land über den Asylantrag entscheiden, über welches der Flüchtling in die EU eingereist ist. Vor allem gefordert sind also EU-Mitgliedstaaten im Süden und Südosten Europas, etwa Griechenland und Italien, die schon besonders von der Finanz- und Schuldenkrise betroffen sind. Das Dublin-System ist jedoch nicht als „Lastenteilungsinstrument“ konzipiert - ein Kardinalfehler, sagen Kritiker, die einen „Solidaritätsmechanismus“ bei der Flüchtlingsaufnahme anstelle der bisherigen technokratischen Zuständigkeitsregeln fordern. Über Reformen wird seit Jahren gestritten. Wie so oft, wenn politische Lösungen auf sich warten lassen, entscheiden - notgedrungen - die Gerichte.
Die Rechtsprechung zu Dublin II ist ein Paradebeispiel für den Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem. Sowohl der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte als auch der Luxemburger EuGH haben entschieden, dass Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland wegen gravierender Missstände im dortigen Asylsystem gegen europäisches Recht verstoßen. Deutsche Verwaltungsgerichte haben auch Überstellungen nach Italien und in Einzelfällen nach Ungarn gestoppt. Das Bundesverfassungsgericht hat über Rückführungen nach der Dublin-II-Verordnung verhandelt. Die Verfassungsbeschwerde eines irakischen Flüchtlings, der zur Prüfung seines Asylantrags nach Griechenland abgeschoben werden sollte, wurde dann aber für erledigt erklärt. Auf Anregung der Karlsruher Richter hatte das Bundesinnenministerium unter Berufung auf das sogenannte Selbsteintrittsrecht der Dublin-II-Verordnung angeordnet, dass Überstellungen nach Griechenland ausgesetzt und die Asylverfahren in Deutschland durchgeführt werden. Im Übrigen sei in erster Linie Europa gefordert, sagten die Verfassungsrichter. Die transnationalen Probleme, die mit der Überforderung des Asylsystems eines EU-Mitgliedstaats entstünden, seien vornehmlich auf europäischer Ebene zu bewältigen. Welche Bedeutung also haben die Urteile aus Straßburg und Luxemburg für das deutsche und europäische Asylrechtsystem?
Der Menschenrechtsgerichtshof hatte in seinem Urteil von 2011 zur Situation von Asylbewerbern in Griechenland den klassischen individualrechtlichen Prüfungsmaßstab erweitert um abstrakt-generelle Betrachtungen zu unzumutbaren Lebensbedingungen für Asylsuchende - eine nicht unproblematische Ausdehnung der bisherigen Rechtsprechung zum Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung in Artikel 3 EMRK, wie Thym beim Migrationspolitischen Forum hervorhob. Dass Artikel 3 EMRK soziale Mindeststandards gewährleiste, sei neu. Der Schutz vor Armut sei in der Europäischen Sozialcharta geregelt, die aber unmittelbar keine einklagbaren Individualrechte begründet. Thym erklärt die pauschalen Betrachtungen des Gerichtshofs zu unzumutbaren Bedingungen für Asylbewerber in Griechenland mit der Arbeitsüberlastung der Richter. Mit der generellen Feststellung hätten sie versucht, Tausende Fälle zu bewältigen.
Als beredtes Schweigen wertet Kay Hailbronner, ebenfalls Direktor des FZAA an der Universität Konstanz, dass der EuGH 2011 in seinem Urteil zu Überstellungen Asylsuchender nach Griechenland nicht wie in früheren Entscheidungen darauf hingewiesen habe, dass bei der Auslegung der EU-Grundrechte die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zu berücksichtigen sei. Offenbar gebe es im EuGH Zweifel an der Erstreckung von Artikel 3 EMRK auf soziale Mindeststandards. Die Luxemburger Richter knüpfen die Prüfung von Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung an Bedingungen, die in der Straßburger Rechtsprechung nicht auftauchen. Nur bei „systemischen Mängeln“ des Asylsystems eines EU-Mitgliedstaats sei die Überstellung von Asylsuchenden dorthin auszusetzen. Eine plausible Argumentation, sagen Hailbronner und Thym. Der Luxemburger Gerichtshof sei schließlich kein Migrationsgericht, sondern sichere die Einhaltung des Unionsrechts und damit das Vertrauen in die geltenden Zuständigkeitsregeln für Asylverfahren. Deshalb sei es folgerichtig, wenn der Gerichtshof hohe Anforderungen an Durchbrechungen des Dublin-Systems stelle.
Wie also sollte oder muss die Politik reagieren? Folgt aus den Entscheidungen der europäischen Gerichtshöfe, dass Rechtsmittel Asylsuchender gegen Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung aufschiebende Wirkung haben müssen, wie Menschenrechtsorganisationen fordern? Heilbronner ist skeptisch; der EuGH habe sich in seiner Griechenland-Entscheidung zum einstweiligen Rechtsschutz nicht geäußert.
Der europäische Flüchtlingsschutz endet jedenfalls nicht an den Außengrenzen der EU. Die Zurückweisung von Flüchtlingen auf Hoher See habe gegen Rechte der EMRK verstoßen, stellte der Straßburger Gerichtshof Anfang des Jahres auf die Beschwerden von Flüchtlingen hin fest, die von italienischen Militärschiffen nach Libyen gebracht worden waren. Welche Maßnahmen zur Grenzsicherung sind nach dieser Rechtsprechung überhaupt noch erlaubt? Darf Deutschland zum Beispiel Drittstaaten Sicherungstechnik liefern, die verhindern soll, dass Flüchtlinge in die EU gelangen?
Die Gerichte haben noch längst nicht das letzte Wort zum europäischen Asylsystem gesprochen.