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Gastbeitrag : Ein neues Staatsvolk

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Das Ausmaß dieses Weges in die deutsche Staatsangehörigkeit deuten Zahlen zu positiven Bescheiden des BAMF an. Im Jahr 2015 gewährte die Behörde 48,5 Prozent der Antragssteller den Genfer Flüchtlingsstatus, hingegen nur 0,6 Prozent den Status eines subsidiär Schutzberechtigten. Nur für letztere gelten die genannten Integrationsanforderungen uneingeschränkt fort, um das Daueraufenthaltsrecht zu erwerben. Der Anteil anerkannter Flüchtlinge mit Genfer Status stieg im Januar und Februar 2016 auf 64 Prozent bei 0,5 Prozent subsidiär Schutzberechtigten (BAMF, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Februar 2016).

Erst der europarechtliche Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft erschließt aber das ganze Bild. Die Unionsbürgerschaft sichert nach der Rechtsprechung des EuGH den Mitaufenthalt der Eltern in einem EU-Mitgliedstaat selbst dann ab, wenn deren Flüchtlingsstatus erloschen ist und das deutsche Daueraufenthaltsrecht deshalb widerrufen wurde (Paragraph 52 Absatz 1 Nr. 4 AufenthG). Die Eltern werden quasi zu unionsrechtlich Geduldeten in Deutschland. Diese Unionsrechtslage, die gegenüber dem deutschen Recht Anwendungsvorrang beansprucht, wird wiederum angehörigkeitsrechtlichen Folgedruck mit Blick auf die Eltern auslösen. Durch das unionale Freizügigkeitsrecht des Kindes und das abgeleitete Mitzugsrecht der Eltern müssen schließlich auch andere EU-Staaten die quasiautomatisierten Angehörigkeitsentscheidungen Deutschlands teilen, die sich selbstbestimmt gegen eine übermäßige Aufnahme von Flüchtlingen aussprechen.

Die menschenrechtliche Nothilfe hat also durch die zeitbedingte Aufenthaltsverfestigung bei Massenzustrom erhebliche angehörigkeitsrechtliche Folgen. Mit dem exekutiven Steuerungsverlust ist nicht nur die Kontrolle über die Zusammensetzung der Bevölkerung aus der Hand gegeben worden, sondern auch jene über das Staatsvolk. Die jüngst wiederbelebten Anfragen nach einem Ausländerwahlrecht, die moralisch ausgedeuteten Wohnsitz- und Näheangehörigkeiten („ius nexi“) oder der von den Grünen eingebrachte Vorschlag des automatischen Staatsangehörigkeitserwerbs für jedes in Deutschland geborene Kind nehmen diese Zusammenhänge nicht nur nicht zur Kenntnis, sondern sind ein politischer Verstärker der supranational-dysfunktionalen Regelung des Grenzüber- und Gebietszutritts im geltenden Recht.

Die Begeisterung für progressive Inklusion hat in Vergessenheit geraten lassen, dass sozialwissenschaftlich konstruierte „postnational memberships“ tatsächlich vor allem eine Folge der durch demokratische Verfassungs- und Nationalstaaten bewirkten Implementierung von Menschenrechten sind. Wer die rechtlich tragenden Unterscheidungen einebnet und der politischen Gemeinschaft die reflexive Selbstdefinition mit humanitären Imperativen aus der Hand nimmt, beseitigt den Verwirklichungsanspruch der Menschenrechtsidee gleich mit. Universelle Rechte verwirklichen sich nur in stabilen - partikularen - politischen Gemeinschaften. Sie tragen und garantieren überstaatliche Integration. Die Zahl der Menschen und die Qualität der verteilungspolitischen und angehörigkeitsrechtlichen Folgefragen rufen nach einer Entscheidung des demokratisch gewählten Parlaments. Denn die Verkopplung von Flüchtlingsrecht, Daueraufenthalt und Staatsangehörigkeit im Kontext von Massenzustrom und dysfunktionaler Unionsrechtsordnung erwächst zum Legitimationsproblem. Was, wenn nicht dies, ist eine grundlegende und wesentliche Entscheidung? Soll die Staatsangehörigkeit ihre funktionsnotwendige Unterscheidungskraft bewahren, um sozialen Zusammenhalt abzubilden, aber auch zu stiften und eine starke Integrationskraft zu entfalten, muss sie sich vom Aufenthaltsrecht abheben.

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