Schweizer Referendum : Niemand will einen Stacheldraht ausrollen
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Plakat der Schweizer Initiative „Masseneinwanderung stoppen“ Bild: dpa
Seit Jahren ziehen immer mehr schlecht ausgebildete Südeuropäer in die Schweiz. Die Gefahren der Armutseinwanderung sind kein Hirngespinst. Nun entscheiden die Bürger: Soll es so weitergehen?
Entgegen immer wieder verbreiteten Falschmeldungen ist die Schweiz ein weltoffenes, ausländerfreundliches Land. Der Ausländeranteil an der ständigen Wohnbevölkerung beträgt mehr als 23 Prozent – ein Rekordwert sowohl in absoluten wie in relativen Zahlen. Seit Jahrhunderten ist die freiheitliche Schweiz ein Magnet für tüchtige Nichtschweizer aus aller Welt. Davon zeugen mächtige zugewanderte Industriellendynastien wie Brown Bovery, Nestlé, Hayek oder Ringier. Die Schweiz ist eines der weltoffensten Länder der Welt und sicher das weltoffenste, internationalste, vielsprachigste Land Europas. Was die Auslandspresse selbstredend nicht daran hindert, chronisch und faktenwidrig das Gegenteil zu behaupten.
Wenn die Schweiz so weltoffen ist, warum wird dann an diesem Sonntag über eine Volksinitiative abgestimmt, die es sich zum Ziel setzt, die Zuwanderung zu begrenzen und den Vertrag mit der EU über die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln? Tatsache ist, dass sich in der Schweiz in breiten Kreisen, von links bis rechts, von unten bis oben zunächst schleichend, jetzt rasanter ein Unbehagen an der seit Jahren kontinuierlich steigenden Zuwanderung ausbreitet. Die Skepsis ist kein Unterschichtenphänomen frustrierter „Modernisierungsverlierer“, wie Soziologen sie deuten. Es handelt sich vielmehr um ein fundiertes Misstrauen gegenüber einer als unkontrolliert empfundenen Politik der offenen Grenzen, deren Folgen sich allmählich besichtigen und messen lassen. Man stellt fest, dass die von klugen Leuten ausgetüftelte Personenfreizügigkeit in der Praxis einfach nicht richtig funktioniert.
Nachweislich falsche Zahlen
Gewiss: Die Schweizer sind wirtschaftsfreundlich. Es ist ihnen sehr wohl bewusst, dass ihre Unternehmen aus Mangel an einheimischem Personal seit jeher auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind. Sie wissen, dass die Schweiz von ihrer historischen Offenheit profitierte und sich nicht einfach in die Schrebergärten der Selbstgenügsamkeit oder des Ressentiments zurückziehen kann. Niemand will einen Stacheldraht ausrollen. Was gegenwärtig auf direktdemokratisch vorbildliche und leidenschaftliche Art diskutiert wird, ist die Frage, ob sich das problembehaftete System der Personenfreizügigkeit mit der EU allenfalls durch ein besseres, auf die Bedürfnisse eines unabhängigen wohlhabenden Kleinstaats besser zugeschnittenes Modell ersetzen ließe. Es geht nicht um die Frage: Zuwanderung ja oder nein? Die Frage lautet: Welche Zuwanderung und wie viel?
Nicht einmal die heftigsten Gegner der von der liberalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierten „Masseneinwanderungsinitiative“ würden bestreiten, dass der freie Personenverkehr Schattenseiten aufweist. Als die Schweiz vor zwölf Jahren erstmals über das Freizügigkeitsabkommen mit der EU abstimmte, beruhigte der Bundesrat mit nachweislich falschen Zahlen. Die Regierung prognostizierte eine fast unmerkliche Nettozuwanderung von 8000 bis 10.000 Menschen jährlich, um die Skepsis zu zerstreuen. Tastsächlich kamen seit Einführung der Personenfreizügigkeit 2007 rund zehnmal mehr, pro Jahr immer mindestens 70.000 Menschen. Zuletzt waren es 85.000 Personen netto, Tendenz anhaltend. Die Schweiz wächst dank der Personenfreizügigkeit jährlich im Umfang einer größeren Stadt wie Luzern oder St. Gallen – mit allen Folgekosten und Auswirkungen auf Verkehrsdichte, Häuserpreise, Lohndruck und Mieten. „Dichtestress“ ist zum geflügelten Wort geworden.