Jürgen Trittin : Göttinger Verhältnisse
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Keine Berührungsängste mit den Autonomen
Vorausgegangen war eine Kapitulation auf Raten. In den achtziger Jahren war die Göttinger Polizei zunehmend in die Defensive geraten, wenn sie versuchte, die vom Jugendzentrum Innenstadt (Juzi) ausgehenden Unruhen samt Scherbendemos, Hausbesetzungen und Brandstiftungen zu bekämpfen. Eine Razzia im Juzi wurde gerichtlich als unverhältnismäßig gerügt. Es seien gerade alteingesessene Bürger gewesen, klagte Polizeichef Knoke, die sich über „Belästigungen“ der Polizei beschwert und Klage eingereicht hätten. Als 1989 eine vor der Polizei flüchtende Demonstrantin in ein fahrendes Auto lief und tödlich verletzt wurde, war wieder nur der übermäßige Einsatz der Sicherheitskräfte schuld am Tod von Cornelia Wessmann.
Fortan griff die Polizei nicht mehr ein, wenn „Mahnwachen“ auf einer vierspurigen Hauptstraße abgehalten wurden, Universitätsgebäude monatelang besetzt blieben oder der „Schwarze Block“ Angst und Schrecken verbreitete. Das Juzi wurde endgültig zum rechtsfreien Raum. Charakteristisch für das Göttinger Milieu war, dass Grüne, Sozialdemokraten, Kirchen und Gewerkschaften immer weniger Berührungsängste gegenüber den Autonomen zeigten und bei „antifaschistischen“ Demonstrationen gern hinter oder vor dem „Schwarzen Block“ marschierten. Anlässe dafür lieferten jederzeit Neonazis, die damals einen Schwerpunkt in Südniedersachsen hatten. Die Autonome Antifa (M), die sich seit Anfang der neunziger Jahre um Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen bemühte, soll sogar in den Räumen der Grünen getagt haben.
Die „Göttinger Linie“
Dass systematische Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, das Vermummungsverbot, das Bewaffnungsverbot sowie Körperverletzungen und Sachbeschädigungen in Göttingen nicht geahndet wurden, wenn sie von einem bestimmten Täterkreis verübt wurden, konnte am zuständigen Oberlandesgericht nicht länger ignoriert werden. Die umfangreichen Ermittlungen eines Oberstaatsanwalts in Celle führten zur Einleitung eines Verfahrens wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung (Paragraph 129 Strafgesetzbuch). Trittin stand dabei unverbrüchlich auf Seiten seiner Göttinger Gesinnungsfreunde. Hausdurchsuchungen bei mutmaßlichen Angehörigen der Autonomen geißelte er als „Amoklauf einer politisierten Staatsanwaltschaft“.
Auf Trittin musste Ministerpräsident Schröder, der kurz zuvor für seine SPD die absolute Mehrheit im Landtag errungen hatte, zwar keine Rücksicht mehr nehmen, doch zu einem Verfahren wollte er es dennoch nicht kommen lassen. Für den Auftritt der 17 Angeklagten und ihrer 54 Anwälte hätte das Landgericht Lüneburg eigens eine ehemalige Reithalle zum Gerichtssaal umbauen lassen müssen. So wirkten Innenminister Gerhard Glogowski (SPD), der die „Göttinger Linie“ der Polizei lange gedeckt hatte, und Justizministerin Heidrun Alm-Merk (SPD) bei der Staatsanwaltschaft auf eine Einstellung des Verfahrens hin. Im Juni 1996 erklärten sich die Angeklagten, die maßgeblich an der Bildung des „Schwarzen Blocks“ beteiligt gewesen sein sollen, zur Zahlung von jeweils 3000 Mark an eine KZ-Gedenkstätte bereit und versprachen, Demonstrationen künftig anzumelden. Wann sich Trittin von seiner Auffassung gelöst hat, in einem im Kern „faschistischen“ Staat zu leben, ist nicht bekannt.