Xinjiang : Muttersprache verboten
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Haftanstalt für ethnische Minderheiten in Xinjiang im Mai 2019 Bild: AFP
Eine Betroffene schildert, wie „Umerziehung“ in der chinesischen Provinz funktioniert.
Schon seit vielen Jahren ist an Freiheit in der Autonomen Region Xinjiang (Ostturkestan) im Nordwesten der Volksrepublik China nicht mehr zu denken. In einem zunächst schleichenden, seit 2015 jedoch rasch fortschreitenden Prozess werden in Xinjiang unter dem Vorwand, „Stabilität“ erreichen zu wollen, immer mehr Uiguren und Kasachen beinahe jeden Alters in sogenannte „Ausbildungslager“ gebracht, um „umerzogen“ und dabei auf schlimmste Weise gequält zu werden.
So beschreibt es Sayragul Sauytbay in dem Buch „Die Kronzeugin“, das auf Interviews, die Alexandra Cavelius mit Sauytbay geführt hat, beruht. Sauytbay gehört der kasachischen Minderheit Chinas an. Seit Jahrzehnten degradiert Chinas hanchinesisch geprägte Regierung nicht hanchinesische Minderheiten und grenzt sie systematisch aus Politik und Gesellschaft aus. Dieser Prozess hat mit der Präsidentschaft Xi Jinpings an Fahrt gewonnen. Vor allem Muslime wie Uiguren und Kasachen werden seit Jahren mit Terroristen gleichgesetzt und als per se verdächtig behandelt.
„Die Kronzeugin“ führt anhand der Biographie Sauytbays langsam an das Kernthema des Buches, die Lager in Xinjiang, heran. Sauytbay wächst als Tochter von Kasachen in Xinjiang auf, lernt Chinesisch, macht einen Universitätsabschluss und arbeitet zunächst als Ärztin. Sie wird sogar Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas. Als sie wegen ihrer kranken Mutter in ihren Heimatort zurückzieht, lässt sie sich zur Lehrerin umschulen. Sie heiratet, bekommt zwei Kinder und erwirbt sich mit ihrem Mann einen gewissen Wohlstand. Zuletzt leitet sie als Direktorin und damit Beamtin mehrere Kindergärten. Ihr Leben scheint ruhig dahinzufließen.
Eine wachsende, von Spannung geprägte hierarchische Abgrenzung von Chinesen zur nichtchinesischen Minderheit der Kasachen ist aber ständig spürbar und verstärkt sich seit 2010 schnell. Zunächst handelt es sich um immer krassere Diskriminierungen, die Sauytbay im Bereich der Sprache, Religion und Kultur der Kasachen und anderer muslimischer Ethnien wahrnimmt. Kasachische Kinder dürfen zum Beispiel ihre Muttersprache in staatlichen Kindergärten nicht mehr sprechen, tun sie es, verkleben die Erzieherinnen ihnen den Mund. Religiöse Merkmale und Traditionen wie Bärte oder Kopftücher werden verboten. Sauytbay und ihr Mann erwägen, nach Kasachstan auszuwandern.
Als schließlich alle Beamte wie Sauytbay ihre Pässe zur Kontrolle abgeben müssen, befürchtet sie, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch die Pässe ihres Mannes und der Kinder eingezogen werden. Die drei sollen unter dem Vorwand, Verwandte besuchen zu wollen, ausreisen, sie selbst plant nachzukommen, sobald sie ihren Pass wiederhat. Sie wird ihre Familie erst achtzehn Monate später wiedersehen. Darüber, was ihr in dieser Zeit passiert, sagt Sauytbay später vor dem Europäischen Parlament in Brüssel aus: über die Situation in einem der Lager, in dem sie ab November 2017 als Ausbilderin tätig sein muss. Darin werden Kasachinnen und Kasachen zwischen 13 und 84 Jahren gefangen gehalten. Sauytbay ist in einer Zelle, die von fünf Kameras überwacht und ständig hell erleuchtet ist, untergebracht. Die Gefangenen leben unter noch viel schlimmeren Bedingungen, in überfüllten Zellen, ohne Toiletten oder fließendes Wasser. Täglich werden sie stundenlang indoktriniert und bei geringsten „Vergehen“ letztlich willkürlich gefoltert oder vergewaltigt. Im an die Kulturrevolution gemahnenden Indoktrinierungsunterricht müssen sie stundenlang Parolen wie „Ich bin stolz darauf, ein Chinese zu sein!“ oder „Ich liebe Xi Jinping!“ wiederholen, Parteilieder singen und schließlich in maoistischem Stil „Selbstkritik“ äußern und „Besserung“ geloben. Die Nahrungsversorgung ist mangelhaft, besonders zynisch dabei ist, dass die ausnahmslos muslimischen Gefangenen freitags Schweinefleisch essen müssen.