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Ukrainische Schicksalsjahre : Weniger ist manchmal mehr

Gedenken an Majdan-Proteste Bild: dpa

Schicksalsjahre in der Ukraine und eine bemerkenswerte These über ein gutes Ende derselben

          4 Min.

          Das 21. Jahrhundert wird ein chinesisches. Davon ist Winfried Schneider-Deters überzeugt. Mit dem Aufstieg Chinas zur dominanten Weltmacht werden die USA, die EU und Russland geopolitisch an Bedeutung verlieren. Das hat Auswirkungen auf die aktuellen Rivalitäten zwischen den drei Akteuren, insbesondere auf die Ukraine. Denn um China die Stirn zu bieten, müssen sie ihre „insignifikanten Konflikte“ beilegen.

          Othmara Glas
          Volontärin

          Dass der Aufstieg Chinas zur Befriedung der Ostukraine führt, ist die zentrale These von Schneider-Deters’ Abhandlung. In zwei Bänden erläutert er die Hintergründe zur gescheiterten Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine im November 2013, zu den Majdan-Protesten, zur Annexion der Krim durch Russland und zum Scheitern des Minsker Abkommens. Die Bände sind eine beeindruckende Rekonstruktion dessen, was in der Ukraine in den vergangenen Jahren passiert ist.

          Der erste Band ist dem „Volksaufstand auf dem Majdan im Winter 2013/2014“ gewidmet, als sich die Ereignisse überschlugen. Schneider-Deters arbeitet heraus, in welcher Zwickmühle sich der damalige Präsident Viktor Janukowitsch vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen befand, zwischen der EU und Moskau stehend. Dass Janukowitsch wenige Tage vor der Unterzeichnung die Vorbereitungen dazu aussetzte, liegt laut Autor jedoch vor allem an Brüssel. Es sei naiv von der EU gewesen, „in eine geopolitische Integrationskonkurrenz zu Russland“ zu treten, ohne der Ukraine eine echte Beitrittsperspektive zu bieten. Das wirtschaftliche Interesse Moskaus an der Ukraine sei einfach ignoriert und der russische Präsident offensichtlich unterschätzt worden. Schneider-Deters vermutet, dass der „ehemalige KGB-Agent Putin ein ‚Kompromat‘ gegen Janukowitsch in der Hand“ hatte. Als Beispiel führt er Janukowitschs vermeintliche Rolle beim Aufstieg des Oligarchen Rinat Achmetow zum reichsten Mann der Ukraine an.

          Als am 21. November 2013 Tausende Studenten auf Kiews zentralem Platz, dem Majdan, gegen Janukowitschs Entscheidung protestierten, reagierte das Regime mit Gewalt. Aus den Studentenprotesten wurde im Dezember ein Volksaufstand mit Teilnehmern im ganzen Land. Schneider-Deters beschreibt minutiös und sachlich den Verlauf der folgenden Wochen. Dabei verliert er sich teilweise in Details, springt in der zeitlichen Abfolge immer wieder vor und zurück. Manches wird mehrfach erklärt. Zu Hochform läuft der Autor dann auf, wenn es um die Einordnung und Darstellung von Reaktionen geht, zum Beispiel nach der blutigen Niederschlagung der Proteste im Februar 2014 und die anschließende Absetzung Janukowitschs durch das Parlament. Auch die Kritik an den bis heute nicht vollständig erfolgten Ermittlungen zu den Scharfschützen auf dem Majdan und an der medialen Berichterstattung sticht durch die Gegenüberstellung von Fakten hervor.

          In Band II geht es um die Annexion der Krim im März 2014 und den bis heute dauernden Krieg im Donbass. Zum Einstieg erklärt der Autor die regionalen Verhältnisse, nationalistische und separatistische Bestrebungen in der Ukraine vor Ausbruch des Krieges. Auch Putins Sezessionsprojekt „Neurussland“ wird behandelt. Wie schon im ersten Band schweift Schneider-Deters jedoch oft ab. Einen Mehrwert bietet er mit der umfassenden völkerrechtlichen Betrachtung der Annexion, die mit der Zusammenstellung von politischen wie juristischen Argumenten aus westlicher und russischer Sicht wohl ihresgleichen sucht.

          Auch die Darstellung der hybriden Kriegsführung, wie Russland „alternative Fakten“ und Fake News nutzt, um mehr oder weniger verdeckte Operationen durchzuführen, ist gelungen. Schwierig wird es jedoch bei den Zukunftsszenarien, die Schneider-Deters entwirft. Durch den „Geburtsfehler“ der Minsker Abkommen, es allen Seiten – der Ukraine, Europa und Russland – recht machen zu wollen, ist eine diplomatische Lösung für den Donbass nicht in Sicht. Ebenso wenig wie die Entsendung von UN-Friedenstruppen, die allenfalls zu einem weiteren „Frozen Conflict“ im postsowjetischen Raum führen würden. Die wahrscheinlichste Lösung für den „Ukraine-Konflikt“ sieht der Autor folglich im Aufstieg Chinas zur (einzigen) Weltmacht.

          Der 1938 geborene Schneider-Deters gilt als Ukraine-Experte. Der Wirtschaftswissenschaftler leitete mehrere Projekte der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Lateinamerika, Asien und dem Südkaukasus. In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre baute er für die FES das „Kooperationsbüro Ukraine“ auf, welches er bis 2000 leitete. Als China-Kenner ist Schneider-Deters bisher nicht in Erscheinung getreten.

          Das ist auch die größte Schwäche des Werkes. Gelingt es dem Autor vor allem im ersten Band, die Ereignisse in eine geopolitische Gesamtbetrachtung einzubetten, wäre es im zweiten ratsam gewesen, die geopolitische Brille wieder abzusetzen. Schneider-Deters lässt in der Annahme, dass sich die EU, die USA und Russland gegen China verbünden (müssen), ukrainische Interessen komplett außer Acht. Die vermutete Marginalisierung der drei „geopolitischen Abstiegskandidaten“ mündet in einen Exkurs über Chinas neue Seidenstraße, Xi Jinpings Machthunger und die chinesisch-russischen Beziehungen.

          Obwohl in Europa Chinas Einfluss noch vielerorts unterschätzt wird, dringt in der EU wie in den USA durchaus die Erkenntnis durch, sich vor China schützen zu müssen. Nicht umsonst werden Schutzzölle oder der Ausschluss von chinesischen Firmen bei Bieterverfahren um kritische Infrastruktur diskutiert. Zudem hat China ebenso wie Russland nur geringe ideologische Strahlkraft. Die wenigsten EU-Bürger, Amerikaner oder Ukrainer lebten wohl gerne im Putinismus oder im System Xi. Umfragen zufolge würde die Mehrheit der Ukrainer die EU-Mitgliedschaft der Mitgliedschaft in der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion deutlich vorziehen. Selbst Russland strebt die von Schneider-Deters unter Berufung auf den kremlnahen Politologen Sergej Karaganow erwähnte „Wende nach Osten“ nur bedingt an. Hier dürfte der Autor Putin unterschätzen.

          Nicht nur die Abkehr vom eigentlichen Thema – Ukraine – ist ärgerlich. Rechtschreibfehler wie „President“ oder der ständige Wechsel zwischen Peking und Beijing als Name der chinesischen Hauptstadt stören weniger als die oftmals holprigen Formulierungen durch das Übersetzen englisch-, russisch- und ukrainischsprachiger Quellen. Zudem hätte ein guter Lektor an vielen Stellen einiges kürzen und zusammenfassen können. Sinnvoll wäre bei 1500 Seiten auch ein Glossar. Wer nach einzelnen Ereignissen oder Personen sucht, muss mühsam im Inhaltsverzeichnis nachschauen.

          Schneider-Deters liefert mit „Ukrainische Schicksalsjahre 2013–2019“ eine ausführliche Betrachtung. Für alle, die sich für die Hintergründe der Proteste und des Krieges interessieren, ist es ein nützliches Nachschlagewerk mit vielen Quellenangaben. Schneider-Deters hätte es jedoch bei dem Rückblick belassen sollen, der alten Weisheit folgend: Weniger ist mehr.

          Winfried Schneider-Deters: Ukrainische Schicksalsjahre 2013-2019. Band 1: Der Volksaufstand auf dem Majdan im Winter 2013/2014. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2021. 608 S., 66 ,-€.

          Winfried Schneider-Deters: Ukrainische Schicksalsjahre 2013-2019. Band 2: Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2021. 882 S., 80,- €.

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