Ungarn nach 1989 : Gesellschaft der Unpolitischen
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Wie alle Länder der Region hat auch Ungarn tiefgreifenden Wandel erlebt. Was das mit der Gesellschaft gemacht hat, wird in diesem Buch analysiert.
Es war im Frühjahr des vergangenen Jahres, als Viktor Orbán, der Ministerpräsident Ungarns, offiziell zum Kampf gegen den Bevölkerungsschwund und für die Rettung der Familie blies. In seiner Rede zur Lage der Nation versprach Orbán, Vorsitzender der nationalkonservativen Fidesz-Partei, die demographische Kehrtwende und finanzielle Anreize für Frauen, mehr Kinder zu bekommen. „Das ist die Antwort der Ungarn (auf den Geburtenrückgang), nicht die Migration“, sagte Orbán. Die Liste der von der Regierung verkündeten Wohltaten für Frau und Familie ist lang.
So soll etwa jede Frau unter vierzig, die zum ersten Mal heiratet, einen Kredit in Höhe von zehn Millionen Forint (rund 28 000 Euro) bekommen. Mit der Geburt des ersten Kindes wird die Rückzahlung des Kredits für drei Jahre ausgesetzt, beim zweiten Kind wird ein Drittel, nach dem dritten Kind der gesamte Kredit erlassen. Außerdem gibt es für Familien mit vielen Kindern finanzielle Unterstützung beim Kauf einer Wohnung oder eines Autos.
Dass der ungarische Staat so energisch darum bemüht ist, das Altern der Gesellschaft aufzuhalten, ist in den vergangenen dreißig Jahren nicht immer so gewesen. Zwar haben sich die demographischen Prozesse seit dem Sturz des Kommunismus 1989/1990 entwickelt wie in den meisten europäischen Staaten: Eltern werden immer älter, Mütter bekommen weniger Kinder. Doch an sozialen Maßnahmen in der Bevölkerungspolitik mangelte es in Zeiten des wirtschaftlichen Umbruchs lange, wie Tibor Valuch in seiner Monographie analysiert.
In „Die ungarische Gesellschaft im Wandel. Soziale Veränderungen in Ungarn 1989–2019“ geht der ungarische Historiker unterschiedlichen Aspekten der radikalen Veränderungen dieser Jahrzehnte auf den Grund, darunter der Demographie. Man könnte nun behaupten, das hätten schon zahllose Autoren vor ihm getan. Diesem Argument begegnet Valuch gleich zu Beginn und will es entkräftet wissen. Denn sein besonderes Augenmerk liegt auf dem sozialen Gefüge und dem Alltagsleben der Ungarn im Umbruch von einer kommunistischen Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie, von einer Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft. Die Arbeit will, wie Valuch schreibt, die „Lücke“ von der historischen zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betrachtung der Wende schließen, „indem sie die ungarische Entwicklung vorwiegend aus der gesellschaftlichen Perspektive analysiert“.
Als es um die demographische Entwicklung geht, rückt Valuch denn auch – ohne konkret Bezug zu nehmen – eine Aussage Orbáns gerade. Ungarn, so schreibt der Autor, gehöre zu den „Migrationsgewinnern“. Die positive Bilanz der Einwanderung habe den natürlichen Rückgang von 700 000 Personen in den vergangenen Jahrzehnten um etwa 300 000 Personen gemildert. Inzwischen gilt der ungarische Ministerpräsident als einer der härtesten Gegner der Migration in die Europäische Union. Umgekehrt gab es vor allem nach der Finanzkrise 2008 eine große Abwanderungswelle: Seit 2010 sollen laut Schätzungen etwa 350 000 bis 450 000 Ungarn emigriert sein.
Neben der Demographie nimmt Valuch in verschiedenen Kapiteln etwa auch die Siedlungsstruktur, die nationalen Minderheiten, die Eliten sowie die Marginalisierten und die politische Partizipation in Ungarn in den Blick. Im Kontrast zu den hitzigen politischen und medialen Debatten, die im Land zwischen Regierung und Opposition häufig geführt werden, ist die Monographie eine sachliche Auseinandersetzung mit den Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte. Angereichert durch Fußnoten und unterbrochen durch einige Schwarzweißfotos und Tabellen, führt der Autor die Disziplinen der Geschichtswissenschaft, Soziologie und Statistik zusammen, um die gesellschaftliche Transformation auf eine „komplexere Art“ zusammenzufassen. Einer politischen Kommentierung der Geschehnisse enthält sich Valuch.
Wer nicht vor Zahlen zurückschreckt, kann in der Monographie anhand von ihnen einen tiefen Einblick in die ungarische Gesellschaft bekommen. So listet Valuch etwa die Zahl der Straftaten und Straftäter zwischen 1980 und 2017 auf, die Bevölkerungszahlen nach Nationalität, den Familienstand von Männern und Frauen seit 1970 oder den Pro-Kopf-Alkoholkonsum der Ungarn seit 1985.
Orbáns Fidesz-Partei regiert in Ungarn mit einer überwältigenden Zweidrittelmehrheit. Gerade erst hat der Ministerpräsident ein weitreichendes Gesetzesvorhaben durch das Parlament gebracht, das es ihm – zunächst in der Corona-Krise, doch ohne konkrete zeitliche Begrenzung – erlaubt, mit Dekreten zu regieren und bestehende Gesetze außer Kraft zu setzen. Dass dieses Vorgehen demnächst auf breite Kritik in der Öffentlichkeit stoßen wird, scheint nach Valuchs Befunden unwahrscheinlich. Ein bedeutender Teil der ungarischen Gesellschaft, so schreibt er, etwa 30 bis 40 Prozent der Menschen, halte sich „weiterhin dem öffentlichen Leben und dem aktiven Politisieren in der Öffentlichkeit fern“.
Tibor Valuch: Die ungarische Gesellschaft im Wandel. Soziale Veränderungen in Ungarn 1989-2019. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2020. 328 Seiten, 34,95 €.