Staatsverbrechen : Ende des Anti-Nürnberg-Diskurses
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Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag am 30. Mai 2013 Bild: dpa
Die Abkoppelung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom Kriegsgeschehen bedeutete nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Revolutionierung des überkommenen Kriegsvölkerrechts, die sich nur auf dem Wege einer kreativen Neuinterpretation bekannter Rechtsfiguren etablieren ließ.
Die Entwicklung des Völkerstrafrechts vom Ende des 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert wird zumeist im Duktus eines liberalen Internationalismus als geradlinig verlaufende Fortschrittgeschichte präsentiert, bei der allenfalls konzediert wird, dass es retardierende Elemente und Phasen der Stagnation gegeben habe, die aber letztlich die im Trend der Zeit liegende fortschreitende Kriminalisierung von schwerstem Staatsunrecht nicht habe aufhalten können. Annette Weinke zeigt dagegen anhand der transnational geführten Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert auf, dass die Einigung auf völkerstrafrechtliche Normen und die Einsetzung internationaler Strafgerichte von Anfang an ein heftig „umkämpftes Terrain politischer, gesellschaftlicher und kultureller Aushandlungsprozesse darstellte“, in dem rechtliche, moralische und historische Legitimationsstrategien eng miteinander verwoben waren. Stets ging es dabei auch „um die Durchsetzung bestimmter Geschichtskonzeptionen und die Behauptung historischer Deutungsvormacht“.
Im Ersten Weltkrieg führten die leidenschaftlichen Debatten über massive Völkerrechtsverletzungen der je anderen Seite mit diametral entgegengesetzten Selbst- und Fremdwahrnehmungen zur Entstehung eines intensiven Gerechtigkeitsdiskurses, in dem sich wandelnde Vorstellungen von Recht, Geschichte und Moral widerspiegelten. Der Krieg wurde auch zu einem Kampf um das Recht und zu einer Propagandaschlacht, in der es die Weltöffentlichkeit für die eigene Rechtsinterpretation und -anwendung zu gewinnen galt. Das Deutsche Reich verlor den Krieg nicht nur militärisch, sondern auch propagandistisch. Weinke erklärt dies mit der „überdurchschnittlichen Sichtbarkeit der von Deutschland ausgehenden Kriegsverbrechen sowie ein theoretischer Diskurs, der diese Kriegsverbrechen - in Abwehr einer sich alsbald herausbildenden, stark moralisch getönten transnationalen Kritik - explizit zu Notwehrhandlungen eines von Feinden umzingelten deutschen Staates erklärte“.
Am Ende standen die Verantwortungsklauseln des Versailler Vertrages, die die Wiedergutmachungs- mit der Kriegsschuldfrage in unglücklicher Weise miteinander verknüpften. In der Frage eines Kriegsverbrecherprozesses gegen die politische und militärische Führung Deutschlands waren sich die Alliierten uneinig gewesen, und das beruhte - neben der unterschiedlichen Einschätzung der Wirkung von Bestrafung oder Straflosigkeit auf das besiegte Deutschland - auf der damaligen Rechtslage: Der deutsche Angriffskrieg, den das „Gewissen der Welt“ missbilligte, war nach damals geltendem Völkerrecht nicht strafbar. „Das Ergebnis“, so Weinke, „war ein verwässerter Kompromiss, den man entweder als Siegerjustiz oder als juristische Farce interpretieren konnte“.
In Deutschland selbst setzte sich - entgegen Bemühungen weitgehend isoliert bleibender kleinerer politischer und publizistischer Zirkel um einen selbstkritischen Umgang mit der deutschen Vorkriegspolitik und Kriegführung - eine im Auswärtigen Amt koordinierte, auf antizipierte Abwehr befürchteter immenser Reparationsforderungen gerichtete Politik durch, die in der Frage der Völkerrechtsverstöße und Kriegsverbrechen zum publizistischen Gegenangriff blies und dabei in der deutschen Wissenschaftslandschaft der Weimarer Zeit, namentlich in der jungen deutschen Völkerrechtswissenschaft, breite Unterstützung fand, die ihre Aufgabe weithin in der engagierten Beteiligung an einer halboffiziellen „Kriegsunschuldforschung“ sah.