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Südosteuropa : Barttracht mit Steuerpflicht

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Jubel über die Ankunft der Roten Armee in Bulgarien im Herbst 1944 Bild: Abb.a.d.bespr. Band

Wer sich mit einer Gesamtdarstellung des Balkans beschäftigt, setzt sich der Gefahr aus, sich zu gewagten Verallgemeinerungen hinreißen zu lassen. Marie-Janine Calic hat nicht nur den Mut für eine neue Gesamtgeschichte aufgebracht, sondern auch eine Methode erarbeitet, um dieser Gefahr auszuweichen.

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          Es gibt in Europa keine Großregion, die es an Komplexität mit Südosteuropa aufnehmen könnte. Nirgendwo sonst hat die Geschichte ihre Fäden so dicht gewebt wie in dem von beständigen Ein- und Auswanderungen geprägten Raum zwischen Mitteleuropa, Mittelmeer und Schwarzem Meer. Gegenwärtig leben hier an die 100 Millionen Menschen, die sich linguistisch in Albaner und Griechen, Rumänen, Roma und Türken sowie - in der slawischen Sprachfamilie - in Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnier, Montenegriner, Mazedonier und Bulgaren teilen.

          Auf dem Balkan begegneten, kreuzten und überlagerten sich die slawischen, romanischen, griechischen und türkischen Kulturkreise, bekämpften einander und koexistierten Katholizismus, Orthodoxie, Islam und Judentum, schwankten die Eliten zwischen Modernisierung und reaktiver Abwehr, zwischen Aufklärung und Romantik. Die totalitären Import-Ideologien des Nationalismus und des Sozialismus stürzten die Völker in ein langes, blutiges Chaos, dessen Folgen bis heute nicht überwunden sind. Auf der Balkanhalbinsel herrschten und zerfielen die Großreiche der Pforte und der Habsburger, intervenierten Russland, Deutschland und die Westmächte, vollzog und vollzieht sich die Integration in die europäischen und transatlantischen Strukturen bis heute langsamer und mit erheblich größeren Widerständen, als dies in Ostmitteleuropa der Fall war.

          Die Vielzahl der Selbst- und Fremdbeschreibungen der Balkan-Nationen sowie ihre meist der jeweiligen Ethnogenese gewidmeten Narrative sind kaum zu überblicken. Heftig sträubt sich die berauschende, identitätsstiftende Macht gemeinschaftlicher Erinnerung gegen die Nüchternheit wissenschaftlich betriebener Geschichte. Die Völker des Balkans sind von ihrer eigenen Vergangenheit geradezu besessen, Blut und Tinte fließen hier gleichermaßen in Strömen. Es handelt sich, um es salopp zu formulieren, um eine Region mit erheblichem Erklärungsbedarf, die Historiker vor besondere Probleme stellt. An der letzten großen deutschsprachigen Geschichte Südosteuropas arbeiteten 14 Historiker. Die Herausgeber Konrad Clewing und Oliver Schmitt begründeten dies 2011 damit, dass eine umfassende Darstellung dieses Geschichtsraums „für einen einzelnen Gelehrten kaum zu bewältigen“ sei. Wer sich mit einer Gesamtdarstellung des Balkans beschäftigt, setzt sich der Gefahr aus, entweder den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen oder sich zu gewagten Verallgemeinerungen hinreißen zu lassen, die sich so rasch widerlegen lassen, wie sie formuliert wurden.

          Marie-Janine Calic, Professorin für die Geschichte Ost- und Südosteuropas in München, hat nicht nur den Mut für eine neue Gesamtgeschichte aufgebracht, sondern auch eine eigenständige Methode erarbeitet, um diesen Gefahren auszuweichen. In der Einleitung ihres lesenswerten Buches unterscheidet sie drei unterschiedliche Ansätze, sich der südosteuropäischen Geschichte anzunehmen. Der erste, zugleich der älteste, stellt die Entwicklung der Nationen und Nationalstaaten in den Mittelpunkt. Das, räumt Calic ein, entspreche zwar dem „primären Erfahrungs- und Handlungsraum“ der allermeisten Menschen der Region, habe aber den Nachteil, dass sich die südosteuropäischen Nationen erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als gestaltende Subjekte abbilden ließen. Zudem rückten größere, raumübergreifende Zusammenhänge aus dieser Perspektive oft in den Hintergrund.

          Der entgegengesetzte Ansatz der Imperien-Forschung betrachte Südosteuropa aus der Sicht der imperialen Zentren wie Venedig, Istanbul oder Wien. Diese Perspektive, meint Calic, sei mitverantwortlich für die Bildung des „Mythos, es hätte in den multiethnischen Empires eine größere Toleranz geherrscht als im Nationalstaat“. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens habe „die Empire-Nostalgie neu angefacht und die Perspektiven auf Südosteuropa stark auf die Erforschung von Nationalismus und Gewalt eingeengt“.

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