Nationale Volksarmee : Ausgehöhlte Gefechtsbereitschaft
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NVA-Propagandaplakat aus den 50er Jahren Bild: Bucher-Verlag
Die friedliche Revolution verlief anfangs keineswegs so friedlich, wie die Bezeichnung suggeriert. Die Drohkulisse sah angesichts der in Teilen der Nationalen Volksarmee (NVA) angeordneten Alarmierung und der Bildung von NVA-Hundertschaften zunächst brutal aus.
Dass der bis an die Zähne bewaffnete und auch in der Gesellschaft militarisierte „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ im Herbst 1989 in einer friedlichen Revolution in kürzester Zeit implodierte und bald darauf von der politischen Bühne verschwand, bildet für alle Beteiligten und Beobachter immer noch eine große Überraschung. Warum und wie das möglich wurde, bleibt eine Schlüsselfrage nicht zuletzt der Militärgeschichte. Der im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMS) in Potsdam entstandene Sammelband mit vier Einzelbeiträgen und einem Anhang von archivalischen Quellen trifft mit dem auf die Maueröffnung gemünzten Titelzitat - einem Satz aus den Erinnerungen des Chefs der Grenztruppen - auch in einem weiteren Sinne den Kernpunkt einer Konstellation, die mit der spektakulären und erfolgreichen Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober unter der Losung der Demonstranten „Keine Gewalt“ ihren ersten Höhepunkt hatte.
Man kann die Ereignisse, die für die beteiligten Zeitgenossen noch kaum in ihrer Tragweite durchschaubar waren, nicht allein mit dem punktuellen Blick auf die drohenden, aber nicht eingetretenen blutigen Konfrontationen in den großen Städten der DDR im Herbst 1989 erklären. Der einleitende Beitrag von Heiner Bröckermann bietet deshalb eine zeitlich weiter greifende Analyse der Militär- und Sicherheitspolitik der SED in den späten 1980er Jahren. Das gemeinsame Ziel aller militärischen Formationen war und blieb die Sicherung der DDR vor äußeren und inneren Bedrohungen. Der genaue Blick hinter die Kulissen zeigt jedoch die Erosion der alten Loyalitäten und die wachsende Unsicherheit in der politischen und militärischen Führung angesichts veränderter Verhältnisse in Michail Gorbatschows Sowjetunion und den benachbarten „Bruderstaaten“.
Bekannt ist, dass die friedliche Revolution im Übrigen zwar ohne Schüsse, aber anfangs keineswegs so friedlich verlief, wie die Bezeichnung suggeriert. Die Drohkulisse sah angesichts der in Teilen der Nationalen Volksarmee (NVA) Anfang Oktober 1989 angeordneten „erhöhten Gefechtsbereitschaft“ und der Bildung von NVA-Hundertschaften zunächst brutal aus. Im Detail wird von Rüdiger Wenzke und Daniel Niemetz nicht nur die Rolle der NVA und der formal eigenständigen Grenztruppen, sondern auch die der Volkspolizei-Bereitschaften und der nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 geschaffenen „Betriebskampfgruppen der Arbeiterklasse“ nachgezeichnet. Sie sollten die öffentliche Ordnung und Sicherheit unter allen Umständen garantieren. Aber der Glaube an diesen Auftrag bröckelte. Das Feindbild „Imperialismus und BRD“ wirkte längst nicht mehr so recht. Die NVA wurde Anfang 1989 verkleinert, ihre innere Geschlossenheit war nicht zuletzt durch den massenhaften Einsatz von Soldaten in der Volkswirtschaft zur Erfüllung der Wirtschaftspläne geschwächt. Auch die Fälle von Fahnenflucht nahmen zu. Dass rund 500 Armeeangehörige erklärten, bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 nicht zur Wahl gehen zu wollen, war ein weiteres Alarmzeichen. Die Betriebskampfgruppen, die beim Mauerbau 1961 noch eine wichtige Rolle gespielt hatten, wollten jetzt nicht als „Knüppelgarde“ in der erwarteten Konfrontation fungieren und brachten das vielfach zum Ausdruck.
Zentral war und blieb die Frage nach dem Verhalten der Roten Armee. Matthias Uhl geht ihr auf der Basis teilweise neu erschlossener russischer Quellen genau nach. Die Antwort macht die überragende Rolle Gorbatschows noch einmal sehr deutlich. Der Verzicht auf gewaltsame Einmischung - wie zuvor bereits in Ungarn bei der Grenzöffnung nach Österreich und der Bildung einer Regierung unter Beteiligung der Solidarnosc in Polen - war integraler Teil der angestrebten Perestrojka, die auch auf eine Beschneidung des politischen Einflusses des Militärs hinauslief. Das fand seinen Niederschlag unter anderem in der deutlichen Senkung der Rüstungsausgaben durch Gorbatschow und einer Reduktion der Generalität von 6000 auf 1200.