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Italien im Zweiten Weltkrieg : Das antideutsche Alibi bricht zusammen

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Mussolini-Büste an der Grabstelle in Predappio Bild: AFP

Die Aufarbeitung des Faschismus, der immerhin eine italienische „Erfindung“ gewesen war, blieb nach 1945 im Netz politischer Gegensätze und eines selbstgerechten Antifaschismus gefangen. Der italienische Weg der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist singulär.

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          Während der aktuellen griechischen Finanzkrise wurde wieder einmal und allzu häufig das Bild des hässlichen (Nazi-)Deutschen zu politischen Zwecken eingesetzt. Außerhalb Griechenlands fand diese Stereotype aber kaum noch Resonanz. Es zeigte sich, dass im übrigen Europa - 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - der Prozess einer austarierten europäischen Geschichtskultur Fortschritte zu verzeichnen hat. Auf das Beispiel Italien macht Filippo Focardi von der Universität Padua aufmerksam.

          Schon seit Beginn des Krieges hatten sich die Alliierten bemüht, Italien - Hitlers wichtigsten Verbündeten - auf ihre Seite zu ziehen. Dafür bedienten sie sich einer Propaganda, die darauf abhob, dass allein Mussolini und seine Clique für die fatale Verwicklung des Landes in den Krieg verantwortlich seien. Sie hätten das Schicksal Italiens in die Hände der blutrünstigen deutschen Barbaren gelegt. Die Italiener selbst treffe keine Schuld. So entstanden die beiden Stereotypen, die bis heute in der kollektiven Erinnerung vorhanden sind: hier der gute Italiener, kriegsunwillig und menschlich auch in seiner Rolle als Besatzer, dort der böse Deutsche, hemmungsloser Gewaltmensch und brutaler Rassist.

          Nach dem Sturz Mussolinis und dem Seitenwechsel Italiens im Herbst 1943 half dieses Bild, die Gegensätze zwischen den alten monarchistischen Eliten und der vor allem links geprägten Resistenza zu überdecken. Der Kampf gegen die deutschen Besatzer begründete die Hoffnung, Italien als vermeintlich unschuldiges Opfer aus den drohenden Folgen der Niederlage der Achsenmächte herauszuhalten. Die Erwartung erfüllte sich nicht ganz. Selbst die Mehrheit der antifaschistischen Linken forderte vergeblich eine Rückgabe der Kolonien, da sich die Italiener doch humanitäre Verdienste bei der Zivilisierung der überseeischen Gebiete erworben hätten. Die Verdrängung der Mitschuld am Zweiten Weltkrieg und seinen blutigen Exzessen ebnete in der Nachkriegszeit einen breiten demokratischen Konsens. Ein „Nürnberg“ fand in Italien nicht statt.

          Den langwierigen und quälenden Prozess einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, dem sich die Deutschen spät, aber dafür umso verbissener aussetzten, betrachtete man zwar mit Respekt; aber die Aufarbeitung des Faschismus, der immerhin eine italienische „Erfindung“ gewesen war, blieb im Netz politischer Gegensätze und eines selbstgerechten Antifaschismus gefangen. Der italienische Weg der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist, wie der Autor meint, singulär. Aufgrund der historischen Rolle des Faschismus und des italienischen Anteils an den Kriegshandlungen ist dieser Weg nicht vergleichbar mit den „kleineren“ Verbündeten Hitlers (Finnland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien). Es ging nicht nur um eine Bewertung von Bürgerkrieg und Kollaboration. Mussolinis Herrschaft währte immerhin zwei Jahrzehnte. Viele Vertreter der Rechten weltweit betrachteten sie damals als Vorbild. Ein ehemaliger Gefreiter in Deutschland hat viel von ihm gelernt, um 1933 an die Macht zu gelangen und sich mit dem „Duce“ zu verbünden.

          Dieser führte bereits seit 1935 seine Kriege und blieb fast bis zum Ende populär. Auch nach seinem Sturz verfügte er in den Reihen seiner von Hitler gestützten Republik von Salò über mehr bewaffnete Kräfte als die gegen die Deutschen kämpfenden Partisanen. Millionen Italiener hatten zuvor in der königlichen Wehrmacht und der faschistischen Miliz für ein Mare Nostrum im Mittelmeerraum, in Nord- und Ostafrika sowie in den Weiten Russlands gekämpft. Sie mögen teilweise weniger diszipliniert und effizient gewesen sein, aber die Barbarisierung der Kriegführung ließ sie nicht unberührt.

          Erst 1942/43 erlebten sie die „deutschen Kameraden“ als hochmütig und gewalttätig gegenüber dem bisherigen Verbündeten. Im August 1943 widersetzten sich viele ihrer Entwaffnung und verbanden sich mit den Partisanen in Südosteuropa. Hitler ließ diesen „Verrat“ mit mörderischen Aktionen und der Versklavung der italienischen Gefangenen bestrafen. Mehr als 1,2 Millionen Soldaten mussten sich dann nach Kriegsende in eine gespaltene Nachkriegsgesellschaft hineinfinden. Die Konstruktion einer Erinnerung, die das Bild des Deutschen dämonisierte, mochte helfen, die Wunden zu heilen, wenngleich auch Bilder vom „anderen Deutschland“ existent blieben.

          Erst in jüngerer Zeit entwickelten sich zum Beispiel über die Oral History Ansätze zu einem differenzierteren Geschichtsbild. Wichtige neuere Arbeiten nehmen die „versäumte Gewissensbefragung“ und den Mythos des Antifaschismus kritisch ins Blickfeld. Das antideutsche Alibi verhindert nicht länger eine öffentliche Reflexion über die Gewalt im Faschismus, seine rassistische und antisemitische Politik, sein Expansionsstreben, die Repressionen und Verbrechen im Krieg. Im Dialog mit der internationalen Geschichtsschreibung haben die italienischen Historiker deutliche Fortschritte erzielt, um Lücken in der Erinnerung an das faschistische Regime und seine Kriege zu schließen, den Schleier über lange verdrängte Aspekte zu lüften. Freilich gibt es, so berichtet Focardi, anhaltende Schwierigkeiten, Zugang zu Akten über italienische Kriegsverbrechen in den Militärarchiven zu erhalten. Versuche im November 2006, per Gesetz Gedenktafeln für die afrikanischen Opfer der Kolonialherrschaft Italiens einzuführen, verliefen im Sande.

          Focardi beschreibt kenntnisreich die Spuren einer verdrängten Debatte um Schuld und Mitschuld sowie ihre Folgen bis in die Gegenwart. Sein lesenswertes und verdienstvolles Buch kann dazu beitragen, auch in Deutschland das Verständnis für die Bemühungen unserer europäischen Nachbarn zu fördern, das „verfluchte Erbe“, so der britische Historiker Tony Judt, das der Zweite Weltkrieg in ganz Europa hinterlassen hat, zu überwinden. Focardi: „Die schmerzliche Vergangenheit im Namen der Zusammenarbeit für eine bessere Zukunft in Europa hinter sich zu lassen ist ein Projekt, an dem man sich ohne Zögern beteiligen sollte.“ Es sei ebenso wichtig, „ein Band zwischen Erinnerung und Gerechtigkeit zu knüpfen, mit dessen Hilfe das Gedächtnis - als kritisches Bewusstsein der Vergangenheit - Verantwortung übernimmt beziehungsweise zu den eigenen Taten steht.“

          Filippo Focardi: Falsche Freunde? Italiens Geschichtspolitik und die Frage der Mitschuld am Zweiten Weltkrieg. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2015. 353 S., 34,90 €.

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