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Flüchtlingskrise : Vor lauter Schlagbaum die Grenze verpasst

  • -Aktualisiert am

Katja Kipping Bild: Imago

Flüchtlinge sind nicht gleichbedeutend mit Vertriebenen, auch wenn Katja Kipping dies meint, während Stefan Luft die Krise sachlich betrachtet.

          5 Min.

          In der Politik sind Bücher geistige Offenbarungseide. Wer als in der Verantwortung stehender Politiker ein Buch schreibt, ist gezwungen, mehr darzulegen, als er es in einer Parlaments-, Wahlkampf- oder Parteitagsrede tun müsste - sonst kommt er nicht auf die mindestens 100 Seiten, bei denen ein Buch erst Gestalt gewinnt. Legt jedoch ein Politiker ein solches Werk vor, so kann er sich nicht mehr auf den Eifer des Wortgefechts berufen, falls er beim Schreiben - welcher Art auch immer, mit und ohne Zuarbeiter und Gegenleser - einen zweifelhaften Ausdruck gewählt oder ein Argument an den Haaren herbeigezogen hat.

          Bei Buchtexten gibt es nach Erscheinen keine Rückzugsmöglichkeiten mehr; übrig bleibt nur die Flucht nach vorn - und die setzt oft genug lediglich den gedanklich eingeschlagenen Weg fort. Die Bürger merken umso deutlicher, dass sich der Irrläufer endgültig verrannt hat. Katja Kipping, Vorsitzende der Partei Die Linke und Mitglied des Bundestages, ergeht es so mit ihrem Buch. Ärgerlich ist die sprachliche Einfalt, der unbedachte Umgang mit den benutzten Wörtern, denen gedankliche Eindeutigkeit und Überzeugungskraft unterstellt wird, obwohl sie doch für den unvoreingenommenen Leser mehrdeutig und unverbindlich sind. Das beginnt mit dem Titel „Wer flüchtet schon freiwillig?“. Hat nicht auch Kippings Partei zum Beispiel von Steuerflüchtlingen gesprochen? Und wird nicht den einzelnen Wirtschaftsflüchtlingen eine freiwillige Entscheidung zugutegehalten, wenn über sie als die Kraftvollen, Wagemutigen, Zukunftsgerichteten geurteilt wird, während ihre Nachbarn in den Elendsgebieten, denen es genauso schlecht geht, sich nicht zur Flucht entschließen?

          Flüchtlinge sind nicht gleichbedeutend mit Vertriebenen. Auch der Entschluss, nach dem Erreichen lebensrettender Flüchtlingslager die Flucht über fünf bis zehn Landesgrenzen bis Deutschland oder Schweden und England fortzusetzen, beruht auf persönlichen Entscheidungen und ist nicht zwingend, wie die Zahl der in Libanon oder Jordanien lebenden Flüchtlinge offenbart. Die unkritische Wahl der Worte stürzt den Leser mehr in Zweifel, als dass er ihn für die Ziele der Verfasserin gewinnen würde. „Das Grenzregime der EU basierte bisher auf der Verabredung, Flüchtlinge an den Außengrenzen sterben zu lassen, wenn nicht sogar auf dem stillschweigenden Konsens, bei diesem Sterben im Zweifelsfall nachzuhelfen.“ Würde Kipping diese „Verabredung“ - wann und von wem in mehreren europäischen Staaten und Brüsseler Institutionen? - belegen, hätte sie der EU eine Ungeheuerlichkeit nachgewiesen. Kann sie diesen Nachweis nicht erbringen, dann hätte sie die Anklage anders fassen müssen, etwa: Erwartung, Absicht.

          Sorgfältiger sind auch die eigenen politischen Überlegungen nicht formuliert. Den „aktuellen Flüchtlingsbewegungen“ hält Kipping zugute, dass sie „eine Botschaft nach Europa“ trügen. „Diese lautet: So wie wir wirtschaften und handeln, wie wir arbeiten, konsumieren und Politik machen - so kann es nicht weitergehen.“ Dass die (Mit-)Vorsitzende der Partei Die Linke eine andere Politik anstrebt, wird klar. Schwerer wiegt, dass sie ihrerseits eine Botschaft an die Zugewanderten aussendet: Ihr braucht euch nicht zu integrieren, ihr braucht euch nicht in die freiheitliche Demokratie und in die freie Marktwirtschaft einzugliedern, hier soll sich sowieso alles ändern, hier soll - mit oder auch ohne euch - kein Stein auf dem anderen bleiben. Sind der Linkspartei die Willkommenskultur und die Flüchtlinge selbst lediglich Mittel zum Zweck des politischen Systemwechsels? Einen größeren Bärendienst könnte keine Partei ihren Zielen und ihrer Klientel erweisen.

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