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Europäische Republik : Wenn das Geld vom Himmel fällt

  • -Aktualisiert am

Euroscheine am 29. September 2010 in Magdeburg Bild: dpa

Ulrike Guérot hält die real existierende EU für nicht mehr reformierbar. Ihrer Ansicht nach sollten die kumulierenden Krisen zu einem radikalen Neuanfang genutzt werden.

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          Dass mit den eingespielten Methoden und Verhaltensmustern innerhalb der EU noch Fortschritte bei der Einigung Europas möglich sind, glauben immer weniger Menschen. Einschneidende politische Umorientierungen scheinen notwendig, wenn das bisher Erreichte nicht verspielt werden soll. Es verspricht keinen Erfolg, mit den Schlagworten „Mehr Europa!“ oder „Jetzt erst recht!“ lediglich die Dosierung der bisherigen Rezepturen zu erhöhen. Daher ist es zu begrüßen, dass die Politikwissenschaftlerin und aus zahlreichen Fernsehauftritten als Europa-Aktivistin bekannte Ulrike Guérot in ihrem Plädoyer für die Gründung einer europäischen Republik neue Denkansätze und Lösungsmodelle verspricht. Schließlich hat gerade in Deutschland die europapolitische Debatte viel zu lange unter einer ängstlichen Blickverengung auf einen zunehmend perspektivlosen Status quo gelitten.

          Ulrike Guérot hält die real existierende EU für nicht mehr reformierbar. Ihrer Ansicht nach sollten die kumulierenden europäischen Krisen zu einem radikalen Neuanfang in der Form einer europäischen Republik genutzt werden. Guérots Utopie zielt auf „ein Europa ganz neuer Form: dezentral, regional, nach-national, parlamentarisch, demokratisch, nachhaltig und sozial“. Dabei verbindet sie von ihr identifizierte „aktuelle gesellschaftliche Megatrends“ (Regionalismus, Nachhaltigkeit, Postwachstumsgesellschaft, genossenschaftliches Denken, Dezentralisierung, Gendergleichstellung) mit vormodernen Traditionsbeständen Alteuropas aus der Zeit vor einem angeblichen nationalstaatlich-kapitalistischen Sündenfall.

          Zur Ausgestaltung ihrer Utopie bedient sich die Autorin ausgiebig in der europäischen Ideen- und Verfassungsgeschichte. Aus Frankreich, vor allem von Rousseau, stammen das republikanische Pathos und der unitarische Grundzug der Überlegungen, die auf soziale Teilhabe aller Europäer mindestens ebenso zielen wie auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Recht und an der Wahlurne. Aus den Vereinigten Staaten kommt die Gussform des politischen Systems mit checks and balances, wobei der EU-Kommission die Rolle der Regierung, dem EuGH die Aufgabe eines europäischen Verfassungsgerichts und dem Straßburger Parlament die Funktion des Abgeordnetenhauses in einem parlamentarischen Zweikammersystem zugedacht ist; als Oberhaus dient ein Senat, der aus fünfzig europäischen Regionen und dezidiert nicht aus den Nationalstaaten beschickt wird. Der deutschen Vorstellungswelt entstammt, wenn auch unausgesprochen, der Gedanke, die blutigen Nationalismen des 20. Jahrhunderts könnten in der europäischen Republik ebenso überwunden werden wie die deutsche Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts im Bismarckschen Nationalstaat.

          Leider fügen sich die verschiedenen Puzzlestücke nicht stimmig ineinander. Wie der Föderalismus deutscher oder amerikanischer Prägung mit dem zentralistischen Grundverständnis der französischen Republik zusammenpassen soll, bleibt unklar. Die Nationalstaaten, die Europas Geschichte seit Jahrhunderten entscheidend mitbestimmt haben, sollen nicht allmählich überwunden, sondern mit einem Schlag aus der europäischen Wirklichkeit herausexpediert werden. Sie hätten, so Guérots Verdikt, „den Rubikon eines politischen Europas nie überschritten“ und verstellten somit den Weg zu einer transnationalen europäischen Demokratie: „Darum haben sie als Akteure der europäischen Einigung ausgedient.“

          Was die konkreten Kosten der von ihr erdachten Wunschwelt anbetrifft, bleibt die Verfasserin vage. Die Vereinheitlichung der sozialen Sicherheitssysteme in Europa „dürfte kein unerschwingliches Vermögen kosten“, schreibt sie. Die nationalen Volkswirtschaften der Eurozone seien bereits weitgehend homogen (!), und die osteuropäischen Staaten, wo die eigentlichen ökonomischen Unterschiede zur Eurozone bestünden, seien relativ bevölkerungsarm (!!): „Es dürfte machbar sein, kleine Länder wie Tschechien, Lettland oder Estland bis 2045 auf den Stand der europäischen Sozialversicherungsgleichheit zu hieven.“ Mit Sätzen wie diesen hat sich Guérots Streitschrift den Untertitel einer politischen Utopie wahrlich verdient. Wer nicht sagt, dass die Schaffung eines europäischen Sozialstaats, der seinem Namen gerecht werden will, für die Europäer in den reicheren Ländern eine deutliche Nivellierung nach unten mit sich bringt, ist entweder naiv oder unaufrichtig.

          So dringend die EU auf neue Ideen und alternative Konzepte angewiesen ist, eine europäische Republik, wie Ulrike Guérot sie entwirft, brächte keine Verbesserung. Sie setzt Wunschdenken und die Sehnsucht nach dem großen Wurf an die Stelle klugen Abwägens und organischer Entwicklung. Auch wenn man den Nationalstaat nicht für den Königsweg in Europas Zukunft hält, so einfach lassen sich 450 Jahre europäischer Politik-, Verfassungs- und Mentalitätsgeschichte nicht wegdefinieren. Wenn die europäische Geschichte eines lehrt, so ist es Skepsis gegenüber Großentwürfen vom intellektuellen Reißbrett, die kulturelle, wirtschaftliche, soziale und politische Unterschiede geschichtslos einebnen und in romantischem Überschwang namens einer verheißungsvollen Zukunft zu einer idealisierten Vergangenheit zurückkehren wollen.

          Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2016. 304 S., 18,- €.

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