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Dirk Tröndle: Mustafa Kemal Atatürk : Starker Vater mit Schwächen

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Gründer der modernen Türkei: Mustafa Kemal Pascha Atatürk

Gründer der modernen Türkei: Mustafa Kemal Pascha Atatürk Bild: picture-alliance / dpa

In der Türkei hat sich ein Personenkult um den großen Militär, Staatsmann und Kulturrevolutionär gebildet, der seinesgleichen sucht: um Mustafa Kemal Atatürk. Dirk Tröndle schildert sein Leben.

          3 Min.

          Vor einiger Zeit sendete das türkische Fernsehen eine historische Seifenoper, die den größten Sultan der Osmanen, Süleyman „den Prächtigen“, sowie seine Gemahlin Roxelana in ungewohnter Weise darbot: nicht nur als großmächtigen Herrscher und liebreizende Herrscherin, sondern auch als Menschen mit normalen Wünschen und Bedürfnissen, aber auch verzeihlichen Schwächen. Etliche Zuschauer protestierten vehement dagegen. So wollte man den längst zur historischen Ikone erstarrten Sultan, unter dem das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert seinen Höhepunkt an Pracht und Macht entfaltet hatte, nicht sehen.

          Bis heute ergeht es Mustafa Kemal Atatürk, dem „Vater der Türken“ und Gründer der modernen Türkei nach dem Ende des Osmanenreiches, nicht anders. Nicht erst seit seinem Tod 1938 hat sich ein Personenkult um diesen großen Militär, Staatsmann und Kulturrevolutionär gebildet, der in heutiger Zeit seinesgleichen sucht. Atatürk ist im Lande ubiquitär. Noch immer kann in der Türkei theoretisch von der Justiz angeklagt und bestraft werden, wer sein Andenken „herabsetzt“, was recht leicht möglich ist. Das historische Wirken Atatürks hat ihn so sehr zur Identifikationsfigur der Türkei werden lassen und entrückt, dass Kritik als „Sakrileg“ erscheint. Die offizielle türkische Geschichtsschreibung ist denn auch noch weitgehend hagiographisch; erst allmählich sind hier und da auch kritische Stimmen zu vernehmen.

          Dirk Tröndle, der in der Türkei lebt und auch türkische Literatur und Quellen auswerten kann, hat ein straffes Bändchen vorgelegt, das nicht nur eine detaillierte Biographie des Helden enthält, sondern gleichzeitig als kenntnisreiche Einführung in die lebhafte Geschichte der Türkei in den vergangenen hundertfünfzig Jahren gelesen werden kann. Die Bibliographie enthält, neben einigen klassischen Werken westlicher Historiker und Türkei-Spezialisten (so Josef Matuz, Alan Palmer und Bernard Lewis) vornehmlich Quellen in türkischer Sprache, die der Autor auch ausführlich zitiert. Darunter sind die bekannten Gefährten Atatürks sowie Schriftsteller, Journalisten und Abgeordnete wie Falih Rifki Atay (1894-1971), denen - aus persönlichem Erleben - besonders viele Details über Atatürk zu verdanken sind.

          Der Autor verfolgt mit Sympathie Atatürks Weg von seiner Geburtsstadt Saloniki bis zu seinem viel beweinten Tod im Dolmabahçe-Palast zu Istanbul und seinem Begräbnis. Schon früh hegte dieser osmanische Offizier, der sich den Jungtürken anschloss, aber niemals ein unproblematisches Verhältnis zu dieser Gruppe hatte, eigene Ziele. Viele Jahre bevor er 1919 nach seiner Landung in Samsun Gelegenheit fand, auf eigene Faust zu handeln, schwebte ihm bereits eine radikale Veränderung der Türkei vor, die weit über den konstitutionellen „spätosmanischen“ Reformansatz der Jungtürken hinausging. Dass ihm dies gelang, hatte auch mit seinem Nimbus als Sieger von Gallipoli im Ersten Weltkrieg zu tun, vor allem jedoch mit seiner triumphalen Sieger-Rolle im nationalen Befreiungskrieg zwischen 1920 und 1922, als die Griechen bis weit in das Innere Anatoliens vorgedrungen waren und die westlichen Mächte die Türkei unter sich aufteilen wollten.

          Detailliert und gespickt mit Originalzitaten der Beteiligten schildert Tröndle die Entstehung der Republik im Jahre 1923, die Schaffung neuer Institutionen, schließlich jene Kulturrevolution, die bis heute in der islamischen Welt einmalig geblieben ist: Abschaffung des Sultanats und Kalifats, Abschaffung der religiösen Gerichtsbarkeit und deren Ersatz durch europäische Rechtsmodelle, Schließung der Derwisch-Konvente, Abschaffung der arabischen Schrift, Sprachreform, Einführung der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Kleiderreform, dazu eine neue Vision der türkischen Geschichte, in der das Osmanische Reich zur Marginalie degradiert werden sollte, und so weiter. Die Widerstände, die es dagegen gab, werden nicht verschwiegen; und auch nicht die wenig demokratische Art, mit welcher der „Vater der Türken“ (so sein offizieller Familienname „Atatürk“ seit 1934) bisweilen manches durchsetzte, was ihm vorschwebte.

          Das letzte Viertel des Buches zeigt Atatürk als Mensch, auch seine problematischen Seiten: die Trinkerei und sein nicht einfaches Verhältnis zu den Frauen, für deren Emanzipation er andererseits so viel getan hat. Fikriye, die ihn wirklich liebte, beging schließlich Selbstmord. Und Latife Hanim aus der bekannten Familie der Usakizade, die ihn heiratete, trennte sich nach knapp zweieinhalb Jahren - wegen Unverträglichkeit. Anrührend hingegen die Art und Weise, mit der Atatürk sich um seine zahlreichen Adoptivkinder kümmerte, etwa die berühmte spätere Geschichtsprofessorin Afet Inan oder Sabiha Gökçen, die erste Jet-Pilotin der Türkei.

          Zu kurz geraten ist der Ausblick auf die Zukunft eines ziemlich erstarrten Kemalismus, zu einer Zeit, da alle Atatürk für sich in Anspruch nehmen, die Türkei aber völlig polarisiert ist: Entweder man ist für Erdogan, den früheren Islamisten, oder man lehnt ihn völlig ab. Woher kommt das?

          Dirk Tröndle: Mustafa Kemal Atatürk. Mythos und Mensch. Muster-Schmidt Verlag, Gleichen/Zürich 2012. 232 S., 16,- €.

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