Gefestigte Milieus : Kleiner, aber radikaler
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Ein Teilnehmers einer Demonstration der rechten Szene nimmt in so genannten Springerstiefeln an der Kundgebung teil. Bild: dpa
Sie sind nicht einmal andeutungsweise die Mehrheit. Aber Gewaltbereitschaft wirkt eben nicht nur durch Masse.
„Gesellschaft Extrem“ – auch wenn der Titel zunächst anderes vermuten lässt, sorgt dieses Buch in Zeiten, in denen Weimar- oder Nazi-Vergleiche nie lange auf sich warten lassen, für Differenzierung. Denn jenseits der typischen Extremismus- und Radikalisierungsforschung traut sich diese Veröffentlichung zu, den Blick auf die Gesellschaft als Ganzes zu wenden. Radikalisiert sie sich? Die Antwort, die die Autoren der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung geben, ist zweischneidig: Einerseits haben sich die demokratischen Milieus gefestigt. Nach den Daten der Leipziger Mitte-Studien erstreckten sie sich im Jahr 2016 auf rund 60 Prozent der Gesellschaft, 2006 waren es nur knapp 37 Prozent gewesen.
Das vorurteilsgebundene Milieu und die antidemokratisch-autoritären Milieus haben sich somit deutlich verkleinert. Andererseits sei jedoch zu beobachten, dass sich die geschrumpften nichtdemokratischen Milieus radikalisieren. In den vergangenen zehn Jahren könne man verfolgen, wie sich Positionen immer stärker voneinander abgrenzen. Und mit zunehmender Polarisierung haben es extremistische Einstellungen leichter, den Weg in die sogenannte „Mitte“ der Gesellschaft zu finden. Treiber dieser Entwicklung sind populistische Parteien. Die konnten jedoch auf der zunehmenden Normalisierung von islam- und migrationsfeindlichen Einstellungen aufbauen. Die Grenzen des Sagbaren hätten sich nicht „von heute auf morgen“ verschoben. So seien etwa die Anschläge der Neunziger (u. a. Hoyerswerda) und die Popularität der Thesen von Thilo Sarrazin Wegmarken der zunehmenden Polarisierung. Gleichwohl habe Deutschland ein schwaches bis moderates Populismus-Potential. Es habe erst des „historischen Ausnahmeereignisses“ der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 bedurft, um eine populistische Partei (die AfD) auf einen zweistelligen Prozentwert zu bekommen – europäischer Durchschnitt. Daher lasse sich vermuten, „dass eine weitere Radikalisierung des Parteiendiskurses bald an seine Grenzen stoßen könnte“. Es hänge vom Umgang mit der AfD ab, „inwieweit sich eine wachsende Offenheit für repressive, antiplurale und diskriminierende Strukturen oder Handlungen verfestigen kann“.
Das Forscherteam der Humboldt-Universität Berlin stellt die Frage, wie sich diese Radikalisierung durch ideologische Gemeinsamkeiten zwischen extremistischen Gruppen verstärkt. So beschreiben sie Antisemitismus als „Schnittmenge zwischen völkischem Nationalismus, linker Militanz und Islamismus“. Anschlüsse und Allianzen ergäben sich über sogenannte „Brückennarrative“ wie Antiimperialismus, Antimodernismus und Antiuniversalismus. Als gemeinsame Denkmuster der Neuen Rechten und des islamistischen Fundamentalismus erkennen die Autoren zudem ein heroisch-maskulines Weltbild und Antifeminismus. Die Übergänge zu nichtradikalisierten Milieus werden hier leider nur insofern angesprochen, als sich extreme Gruppen zunehmend einer popkulturellen Ansprache bedienen und nicht mehr als Subkulturen verstanden werden können. Hier wäre es interessant gewesen, inhaltliche Übergänge zur politischen Mitte wenigstens anzudeuten. Unter das „Widerstands-Dispositiv“ radikalisierter Gruppen etwa fassen die Autoren, sich auf „eine höhere Sache“ zu berufen, die über dem demokratischen Prozess steht. Kein Denkmodell, das der hochgebildeten Anhängerschaft etablierter Parteien fremd wäre – die zunehmenden Sympathien für rein wissenschaftlich hergeleitete Entscheidungen durch ungewählte Experten sind nur ein Beispiel.